Annaberger Künstler um 1500

Erzgebirgisches Sonntagsblatt 119. Jahrgang, Nr. 29, 18. Juli 1926, S. 1

Von Dr. Stohmann.

(Fortsetzung und Schluß.)

Der Meister H. W. [Hans Witten]

Wenden wir uns nun dem großen Bildhauer der neuen Kunstweise zu, dem Schöpfer der „Schönen Tür” und des Taufsteins! Die Plastik um 1590 ist nicht mehr Dienerin der Architektur, wie in gotischer Zeit. Zwar hat der Meister, als er die Umrahmung der Schönen Tür ausschmückte, im Dienste des Baumeisters gearbeitet. Aber er hat nicht daran gedacht, sein Bildwerk einzuordnen.

Der Meister H. W.: Die schöne Tür, St. Annenkirche, Annaberg

Das Portal zeigt einen äußeren Rahmen in Form eines Spitzbogens, der in einer Kreuzblume endet, und einen inneren Rahmen in Form eines Vorhangfensters (auch „Eselsrücken” genannt). Letztere Tür- und Fensterform ist für die sächsische Bauweise der Zeit charakteristisch, man findet sie besonders an der Albrechtsburg zu Meißen und am Rathaus zu Plauen i. V.  Mit beiden Rahmen schaltet der Meister willkürlich; den inneren besetzt er mit wappenhaltenden Engeln, zwischen beide Rahmen gruppiert er die Gestalten der Dreifaltigkeit, die von Engeln gefeiert wird. Das gewaltige Relief füllt den Rahmen nicht nur restlos aus, sondern sprengt ihn derart, daß die mächtig ausgebreiteten Flügel der Engel Teile der äußeren Umrahmung verdecken. (Siehe Bild.) So schaltet die neue, freie Kunst nach Gutdünken mit den gegebenen Portalformen. Noch viel willkürlicher verfährt sie aber mit isolierten tektonischen Gebilden, wie Taufsteinen, Kanzeln usw.: hier werden die gegebenen Formen gänzlich in plastisches Ornament aufgelöst. Das vielleicht großartigste Werk dieser Art entstand damals zu Freiberg, es ist die Tulpenkanzel des Domes. Annaberg besitzt einen tulpenförmigen Taufstein von der Hand des Meisters H. W.

Der Meister H. W. Der Taufstein, St. Annenkirche, Annaberg

Der Name dieses bedeutenden sächsischen Bildhauers um 1500 ist noch immer unbekannt. Er hat die Schöne Tür mit dem Zeichen „H. W. 1512” signiert; dasselbe Zeichen mit der Jahreszahl 1511 befindet sich an dem Altarrelief der Stadtkirche zu Borna. Auf Grund größter Ähnlichkeit der Gesichter und der Körperhaltung darf man noch die herrlichen lebensgroßen Pulthalterfiguren der Stiftskirche zu Ebersdorf bei Chemnitz dem Meister H. W. zurechnen. Letztere entstanden 1513, als die Stiftskirche eine neue Einrichtung bekam. Darnach hätte der Künstler 1511 in Borna, 1512 in Annaberg, 1513 in Chemnitz gearbeitet. Vielleicht lebte er in Chemnitz, wo er nach Annahme mancher Forscher auch das bekannte Portal der Schloßkirche geschaffen haben soll. Genaueres wissen wir nicht; vergeblich hat man versucht, das Monogramm auf den böhmischen Namen „Hans Woyzek” zu deuten.

Betrachten wir nun den Taufstein! Aus dem knolligen Fuß steigen sechs Windungen empor, die sich lianenartig ineinander schlingen und so den Stiel der steinernen Blume bilden. Letztere ruht mit ihren sechs Blütenblättern in den kelchförmig auseinandergabelnden Windungen eingebettet. Um die Zartheit der Blume im Gegensatz zur Derbheit des Stieles zu betonen, hat der Künstler die Blütenblätter mit köstlicher Filigranarbeit besetzt, die so fein ist, daß man das ganze Werk früher für Bronzeguß hielt. Das Material ist jedoch Tuff oder Sandstein, und es ist bezeichnend für die Kultur der Renaissance, daß der Bildhauer den Erzgießer und Goldschmied nachahmt. Führerin der neuen Künste war eben die Malerei, darum standen in der Plastik Bronze und Gold obenan, auf deren blanken Flächen das Licht malerisch fluktuierte. Wenn der Plastiker Stein oder Holz verwendete, so pflegte er das lichtlos stumpfe Material kräftig zu bemalen und zu vergolden. Freilich ist solche Kunst nicht materialgerecht, sofern ist die gegebene Eigenart des Materials mißachtet, wodurch oft der unästhetische Eindruck des Surrogates entsteht. Bei unserm Taufstein jedoch kann davon keine Rede sein; denn der Künstler hat nicht nur den Bronzeguß nachgeahmt, sondern seinem Werk auch die Form einer getriebenen Metallarbeit gegeben. Dieser Taufstein steht vor uns wie ein riesenhafter Abendmahlskelch. Seine Formen sind so zierlich, daß sie ohne wesentliche Abänderung als Modell einer Goldschmiedearbeit dienen könnten. Dies hat der Künstler besonders durch den figürlichen Schmuck erreicht: 4 Engel schweben um den Stiel des Gefäßes, an der Stelle, wo sich beim Abendmahlskelch der Knauf mit den Roteln befindet. Die Engel halten ein Band mit dem Spruch „Gehet hin in alle Welt und lehret die Völker”. Da sie ganz ornamental gedacht sind, zeigen ihre Gesichter alle den gleichen Ausdruck freudiger Erregtheit; auch die schwebende Bewegung der Beine ist gleichmäßig stilisiert. Auf dem plumpen Fuß des Gefäßes sitzen in entsprechend unbeholfener Haltung anbetende Kinder in offenen, leicht fallenden Knappenhemdchen.

Trotz dieses Gegensatzes zwischen dem Fuß und dem zarten Kelch ist das Werk ein geschlossenes Ganzes. Der Abschluß nach oben ist wieder kräftig gegeben; denn der Rand des Kelches ist umgeschlagen und trägt in kräftigen Lettern den Spruch: „Es sei denn, daß einer neu geboren werde aus Wasser und Geist, so kann er nicht in das Reich Gottes kommen”. Über diesem prächtigen Abschluß erhebt sich noch ein Aufsatz, der aus dem Jahre 1834 stammt, ein Produkt der Epigonengotik, welches die reine Wirkung des Kunstwerkes beeinträchtigt. Im Jahre 1834 wurde der Taufstein restauriert und in wenig glücklicher Weise neu bemalt.

Bewundern wir am Taufstein mehr den feinen Geschmack des Kunsthandwerkers, so ist das Relief der Schönen Tür ein reines Kunstwerk, großartig entworfen und überzeugend gestaltet. Im unteren Teil des Portals entwickeln sich aus dem Zierrat der übereck konstruierten Füße feine Ranken. Aus diesen gehen die Relieffiguren der hl. Anna und des hl. Joachim hervor. Über deren Häuptern streben Spruchbänder empor zu zwei Engeln, welche die Wappen Herzog Georgs des Bärtigen und seiner Gemahlin halten. Die Körper der Engel sind ornamental empfunden, sie haben die Ecken des inneren Türrahmens auszufüllen und verrenken sich darum seltsam. Die Spruchbänder, die sich auch zwischen den beiden Engeln fortsetzen, zeigen in lateinischem Text Anrufungen des göttlichen Erbarmens und Lobpreisungen. Unter dem mittleren Spruchband ist ein dritter Engel dargestellt, der dem Beschauer gleichsam schräg entgegenstürzt, mit offenem Munde, als wollte er uns durch Zuruf auf den Anblick der göttlichen Herrlichkeit vorbereiten.

Denn diese darzustellen, hat der Bildhauer im oberen Teil des Portales, zwischen innerer und äußerer Türeinfassung, versucht. Im Mittelpunkt der gewaltigen Gruppe erblicken wir die Dreifaltigkeit, nach süddeutschem Vorbild als „Gnadenstuhl” dargestellt: Gottvater, ein Greis mit kraftvoll majestätischen Zügen, beschwört mit der Rechten den neuen Bund, während seine Linke den Crucifixus hält, der ihm im Schoße liegt. Auf dem Balken des Kreuzes über der Linken Gottvaters sitzt die Taube. Neun ekstatisch anbetende Engel umgeben den Gnadenstuhl, fünf zur Rechten und vier zur Linken. Fast jede Gestalt zeigt eine andere Gebetshaltung der Hände, die zwei untersten rechts bringen der Gottheit Krone und Szepter. Bei größter Ähnlichkeit der Gesichter werden durch das unerhört reiche Gebärdenspiel die verschiedensten Temperamente und Charaktere dargestellt. Die einzelnen Stufen religiöser Verzückung werden zum Ausdruck gebracht. Auch aus den Gewändern spricht die Erregung: scharfkantig herausgearbeitet sind die Falten, welche meistens die Körperumrisse deutlich erkennen lassen; in breiten Lappen wirft sich der Saum der Kleider. Es ist ausgesprochene Gebärdenkunst, in welcher hier vermöge der goldschmiedeartigen Härte der Meißelführung Höchstes geleistet worden ist.

Seitlich unterhalb der Hauptgruppe kniet rechts Franziskus, links Klara (nach anderer Auffassung Maria). Mit derselben freudigen Hingabe wie die Engel beten auch die beiden Heiligen die Gottheit an. Mit derselben scharfkantigen Technik des Faltenwurfes ist auch ihr ganzes Wesen in den Gewändern dargestellt: das harte, gradlinig fallende Gewand des Franziskus steht im Gegensatz zu dem weich anschmiegenden Stoff des Kleides seiner Partnerin. Dementsprechend hat Franziskus die Hände, stürmisch drängend, höher zur Gottheit erhoben als die ruhig betende Klara. Zwischen den Häuptern der beiden Heiligen schlingen sich zwei Spruchbänder hin; sie tragen die Mahnung „Memento salutis” und das Gebet um Fürbitte der Heiligen „Tu pro nobis intercede”.

Wenn auch die Komposition des Reliefs möglicherweise durch Martin Schongauers großen Antoniusstich angeregt worden ist, so ist doch die gedrängte Füllung des gegebenen Rahmens des Meisters eigenster Gedanke. Er erreicht hier, was dem Maler Lukas Cranach bei seiner Darstellung der Ehebrecherin versagt blieb: in den engsten Rahmen eine Fülle von Gestalten hineinzukomponieren, ohne daß das Werk unübersichtlich und verworren wirkt. Der Meister H. W. löst diese Aufgabe durch die metallisch harte Linienführung der Gewänder und der Umrisse der Gestalten; denn dadurch wird es ihm möglich, die Figuren der Anbetenden in drei verschiedenen räumlichen Tiefenlagen anzuordnen.

Was sonst die Schöne Tür an plastischer Arbeit zeigt, steht hinter dem Mittelrelief zurück. Besonders störend ist der Sims, der die Kreuzblume von dem übrigen Rahmen abschneidet. Er ist wahrscheinlich eine Zutat aus dem Jahre 1577, welcher Zeit auch die unorganisch daraufgestellten Figuren angehören. (Adam und Eva ruhend, Moses und Johannes stehend.) Ein Meisterwerk der Stilisierung dagegen ist die Kreuzblume, welche in der Gestalt des symbolischen Pelikans endet, der gleich Christus sein Blut für die Jungen vergießt. So ist zwar auch die Schöne Tür, wie so manches große Werk der alten Zeit, durch eine spätere Ergänzung entstellt worden, doch beeinträchtigt diese keineswegs die gewaltige Wirkung des Hauptreliefs, welches der größte Künstler schuf, der um 1500 in Annaberg tätig war.