Die Annaberger Straßennamen.

Erzgebirgisches Sonntagsblatt 119. Jahrgang, Nr. 26, 27. Juni 1926, S. 6

Heimatkundliche Plauderei von Emil Finck.

(Fortsetzung.)

So entstand dort ein Stadtteil, der hinsichtlich seines Aussehens gar merklich von den anderen Vierteln abstach und vorwiegend von Familien bewohnt ward, die sich mühsam und bescheiden hinfristeten. Um so reichlicher sollen aber zu jedweder Zeit die Insassen jener Häuslein mit jungem Nachwuchs gesegnet gewesen sein. Vor gar nicht langer Zeit erst wurden die Gassen scherzend als das „Annaberger Kinderheim” bezeichnet. Und in einem alten Annaberger Sprichwort heißt es damit übereinstimmend:

„Wer auf der Sommerleite sieht kein Kind,
Kömmt durch die Kirchgass‘ ohne Wind,
Und durch die Wolkensteiner Gasse ohne Spott,
Der acht’s als eine Gnad‘ von Gott.”

Der Vers vom Spott zielt auf die sogenannten „Lästerstufen” hin, die bis zum Ausbau der Röhlingschen Fabrik den Wehrgang hinter der Stadtmauer oberhalb des Wolkensteiner Tores mit diesem in Verbindung setzten. Von diesen 15 (später 16) Stufen berichtet Geh. Regierungsrat Reiche-Eisenstuck in den Rückblicken unter anderm: „Hier pflegte sich das Frauenpublikum der Sommerleite bei den Begräbnissen ein Rendezvous zu geben und Revue über den vorbeikommenden Leichenzug und namentlich über die Toten zu halten.” Der Annaberger Kürschnermeister und Poet Johann Gottlieb Grund *) aber geißelt solche gewohnheitsmäßige Lästerei in folgender drastischen Weise:

Auf die wieder reparierten funfzehn Stufen.

Aus funfzehn Stufen sind nun sechszehn zubereit‘
Darauf erzählt man sich oft manche Neuigkeit.
Wenn eine Leiche wird zu ihrer Ruh gebracht,
So stehet alles voll, wenn man so gibet acht.

Nun geht es noch einmal über den Toten her:
Was sie vor Fehler hatt‘, und was vor Fehler er.
Es wird hier publiziert, wie sie sich hab’n vertragen. —
Und wie’s nun werden wird, das hört man auch schon sagen.

Sie teilen auch schon aus in der Geschwindigkeit,
Die sich für’n Witwer schickt, zu gehn hin auf die Freit‘.
Was ein‘ in Vorschlag bringt, das weiß die andre besser.
Es klingt bald klar, bald grob — wie rauschendes Gewässer.

Wo eine stocken tut, hilft ihr die andre ein;
Es scheint, als sollte hier die Judenschule sein. —
Sehnt nur, was noch geschieht, indem sie sich bemühn,
Ueber die Trauerleut‘ mit Spott zu Feld zu ziehn!

So kommt die Leich ans Tor. Dann ziehen alle nach,
Umringen da den Sarg. Die Leich man sehen mag:
Ob etwa am Anzug noch etwas ist vergessen.
Und jede Miene ist Leidträgern angemessen.

Wenn man nun all’s besehn und eingesenkt die Leich‘,
Huppt ein hin, ’s andre her, und sind den Fröschen gleich,
Die auch so um die Pfütz‘ so lange quaken, schein,
Als bis sie von der Hitz‘ ganz ausgetrocknet sein.

Und voller Neuigkeit läuft alles auseinand;
Keins denket an sein End‘. — O, das ist eine Schand‘!

*) Grund wurde 1742 in Schönberg bei Görlitz geboren und starb 1820 in Annaberg. Seine Gedichte erschienen 1816 in erster, 1866 in zweiter Auflage.

Die für den alten Wehrgang gebräuchlich gewesene Bezeichnung Stufenweg ist, obzwar die Lästerstufen längst beseitigt worden sind, im Jahre 1897 wieder aufgelebt. Der kurze Weg, der jetzt so heißt, ist ja doch wenigstens ein Stück des alten.

Der Stadtbrand am 27. April 1604.
Zeichnung von Rudolf Köselitz-München für Emil Finck’s Heimaterzählungen, welche im Pöhlberg-Verlag unter dem Titel: „Es war einmal…” erschienen sind.

Uber den Namen Siebenhäusergasse berichtet eine reizend ausgestaltete örtliche Sage, daß er nach der großen Feuerbrunst am 27. April 1604 aufgekommen sei und an den Schreckenstag erinnere. Alle öffentlichen Gebäude und gegen 700 Wohnhäuser sind damals der gefräßigen Flamme anheimgefallen. Nur an der einzigen Gasse sollen wie durch ein Wunder — so erzählt eben die Sage — sieben Häuser völlig verschont geblieben sein. Das ist wohl möglich, aber doch erscheint es verwunderlich, daß die ziemlich ausführlichen schriftlichen Berichte über das gräßliche Ereignis, die aus jener Zeit vorliegen, darüber keinerlei faßbare Andeutung enthalten. Auch ist es auffällig, daß Namenbildungen mit dem Bestimmungsworte „Sieben” besonders in Gegenden, wo der Bergbau betrieben worden ist, ziemlich häufig sind, ja, daß selbst die Bezeichnung „Siebenhäusergasse” auch anderwärts vorkommt.

(Fortsetzung folgt.)