Hungerszeiten im Obererzgebirge.

Erzgebirgisches Sonntagsblatt 119. Jahrgang, Nr. 16, 18. April 1926, S. 2

(Schluß.)

Pastor Brückner von Königswalde schrieb seinem Freund in Dresden folgendes: „Ewiger, erbarmender Gott, was für elende Menschen, blaß wie Leichen, ausgezehrt wie Gerippe, ganz nackend und bloß, gehen jetzt täglich vor meinen Augen herum. Hier sieht man ausgehungerte Eltern, zerlumpte Kinder, taumelnde und geschwollene Alte, kläglich wimmernde Witwen und Waisen. Alle schreien nach Brot, oft nur nach einem Bissen Brot. Der gänzlich auf die Neige gekommenen Armen, die in der Stille ihre schwere Armut beseufzen, gibt es eine erstaunende Menge allhier, daß es also von meiner ausgesaugten Gemeinde heißt: Schauet doch und sehet, ob irgend ein Schmerz sei, wie mein Schmerz. Der Herr hat uns voll Jammer gemacht. — Insbesondere will ich das vorgestrige Beichtsitzen zeitlebens nicht vergessen: Es kamen viele Kranke mit verbundenem Kopfe in die Kirche; aus allzugroßer Schwachheit wurden sie unter der Beichte irre und fingen an, die bittersten Tränen zu vergießen. Andere konnten etliche Minuten lang vor innerlicher Wehmut nicht ein Wort reden, sie schluchzten und seufzten. Ach, Gott, welch‘ ein Anblick ist das, das Herz möchte mir bluten. Man wird selbst auf das empfindlichste gerührt und dermaßen erweicht, daß man selbst mit weinen und jammern muß. Wir mögen billig mit Hiob sagen: Wenn man unsern Jammer und unser Leiden in eine Wagschale legte, so würden ihrer mehr sein, denn Sand am Meere. Ach, Gott, erbarme dich Aller.”

Daß es zu allen Zeiten Menschen gegeben hat, die unbekümmert um die Not der anderen sich zu bereichern suchten, zeigt die folgende im Wortlaut der Chronik wiedergegebene Geschichte: „Zwei Soldaten vom Regiment Maximilian, von dem einige Compagnien in Annaberg in Garnison lagen, stahlen einem Bauer in Geyersdorf einen fetten Ochsen aus dem Stall und schlachteten ihn oben am Fuße des Pöhlbergs. Wie der Bauer früh seinen Ochsen vermißt, durchforscht er, von seinen Nachbarn unterstützt, das ganze Dorf. Als hier ihr Suchen vergeblich gewesen war, kommen sie endlich an den Ort, wo der Ochse geschlachtet worden war, aber die Diebe mit dem Fleisch waren bereits verschwunden. „Dein Ochse ist pritzsch!” sagte der eine Nachbar; ein anderer aber kam auf die Spur, wo man das Fleisch hingetragen, weil hin und wieder Schnee lag, auf dem Blutstropfen entdeckt wurden. Die Spur führte zur Stadt, aber innerhalb des Tores verlor sie sich wieder. Endlich traf man wieder auf Blutstropfen und gelangte so in ein Haus. Es war das Quartier des einen Soldaten; man fand noch das sämtliche Fleisch, das von den Bauern wieder nach Geyersdorf geschafft wurde. Beide Soldaten ergriff man und lieferte sie nach Chemnitz, wo der Generalstab stand, zur Bestrafung ab.”

Es gab aber auch edle Menschen genug, welchen der Jammer zu Herzen ging und die nach Vermögen spendeten. Überall hin waren, meistens durch die Ortsgeistlichen, Hilferufe ergangen, und nach und nach liefen aus dem ganzen Lande Spenden ein, welche die Not etwas zu lindern vermochten. Im Januar 1772 konnte der Rat der Stadt Annaberg, aus einer Spende von 100 Thalern eines unbekannten Leipziger Wohltäters, 644 Dreipfundbrote an 399 Familien mit 1052 Köpfen verteilen lassen.

Durch eine Dresdner Vermittlung kamen am 20. Juni nach Annaberg 45 Thlr., nach Bärenstein 25 Thlr., nach Ehrenfriedersdorf 20 Thlr., nach Elterlein 25 Thlr., nach Geyer 26 Thlr., nach Jöhstadt 25 Thlr., nach Königswalde 25 Thlr., nach Crottendorf 25 Thlr., nach Mildenau 25 Thlr., nach Scheibenberg 25 Thlr.

Die Freimaurerlogen zeigten sich außerordentlich wohltätig. Der Orden erhielt 952 Kinder und 451 Erwachsene und brachte hierzu 450 Thaler auf. Durch Spenden der Freimaurerloge zu Dresden, aus Nürnberg und der Schweiz, konnte 1772 in Marienberg ein Waisenhaus errichtet werden, denn Hungersnot und Krankheit hatten allerorts zahlreichen Kindern die Eltern geraubt.

Die Dankbarkeit für die Hilfsaktion war in allen Orten groß. Der hilfsbereite Edelmut hatte den Erzgebirglern den Glauben an Gott und die Menschen wiedergegeben, so daß sie die Notzeit überdauerten, wenn sie sich auch mit Hilfe der Spenden, die auch die nächsten Jahre noch flossen, nur mühsam am Leben erhielten. Eine gute Ernte des Jahres 1772 half weiter. Der Brotpreis konnte auf 10 Neugroschen gesenkt werden. Es dauerte aber noch ein ganzes langes Jahr, ehe die Hauptschwierigkeiten überwunden waren. Erst nach 1773 wurde es ganz, ganz langsam wieder besser.

Ein Wahrzeichen an jene schweren Notjahre hatte sich bis zum Jahre 1912 auf dem Annaberger Friedhof in der Hungerfichte erhalten, die sich auf dem mittleren Teil in der Nähe des nach der Adam-Ries-Straße führenden Gartentores befand.

In Frohnau starb in den Hungerjahren 1771/72 die Mutter der Bergmannsfamilie Hänel, welche in einem Häuschen in der Nähe des sogenannten „Letzten Hellers” an der alten Schlettauer Straße wohnte. Geld für das Begräbnis war nicht vorhanden, und so mußte der Sohn die tote Mutter auf einen Schubkarren zum Annaberger Gottesacker fahren, um sie wenigstens in geweihter Erde bestatten zu können. Der Totengräber half ihm bei diesem schmerzlich-traurigen Liebesdienst. Zur Kenntlichmachung des Grabes pflanzte der Sohn eine junge Fichte auf die letzte Ruhestätte seiner Mutter. Und diese Fichte war es, die im Laufe von über 100 Jahren zum stattlichen Baum heranwuchs. Ein Sturm legte am 13. November 1912 das Naturgrabmal um und verwischte das letzte äußere Zeichen einer schweren Notzeit.

Nach Dr. Spieß.