Literarische Bilder Annabergs und seiner Umgebung um 1800

Illustriertes Erzgebirgisches Sonntagsblatt 127. Jahrgang, Nr. 2, 7. Januar 1934, S. 1

Von Dr. Ernst Gehmlich, Zwickau.

Als im 18. Jahrhundert aus dem Geiste der Aufklärung, seiner „Weltleidenschaft” und seinem Wirklichkeitshunger zuerst in England ein leidenschaftliches Verlangen nach Erweiterung der Weltkenntnis hervorbrach, erwachte bald auch in Deutschland ein stürmischer Drang in die Ferne. Zum wahren Reisefieber steigerte ihn hier das neue Naturgefühl Rousseauscher Herkunft, das sich von den Kunstgärten des Barocks und Rokokos abkehrte, um in weiter, unberührter Landschaft höchsten Genuß zu suchen, dabei vor allem die Reize der Gebirgswelt entdeckte und das Empfinden für sie als wertvollen seelischen Besitz für künftige Geschlechter gewann. So wanderte man nun auch in die verrufene rauhe, unwegsame „erschröckliche” und „gar betrübte” Gegend des Erzgebirges, nicht nur auf der alten Heerstraße Dresden – Freiberg – Chemnitz – Zwickau an seinem Rande hin, sondern auch von Norden nach Süden, von seinem Fuße bis hinauf zu seinem Kamme, um seinen Bau zu erforschen, sein Wirtschaftsleben und die Art seiner Bewohner kennen zu lernen und sich an der Schönheit romantischer Felsgebilde, idyllischer Täler, erhabener Berge zu erfreuen, wie es etwa Goethe auf seiner dritten Schweizerreise (1797) tat. Dabei zeichnete man Annaberg durch ganz besondere Aufmerksamkeit aus.

Bereits der Berghauptmann Johann Friedrich von Charpentier rühmt in seiner „Mineralogischen Geographie der kursächsischen Lande” (1778) die landschaftlichen Vorzüge Annabergs und seiner Umgebung. Er spricht auf Grund eigener Anschauung; hatte er doch im Dienste seiner Wissenschaft ganz Kursachsen bereist, und besaß er doch als einer der ersten seiner Fachgenossen den Willen und die Fähigkeit, durchforschte Gebiete auch ästhetisch zu würdigen. Wir wandern mit ihm vom „malerischen” Wolkenstein her der Bergstadt Annaberg entgegen. „Das äußere Ansehen von diesem Teile unseres Gebirges ist”, so schildert er seine Eindrücke, „von verschiedenen Punkten betrachtet, sehr abwechselnd. Aus dem Tale des Tannenberger Wassers bei Wiesenbad, Wiese und weiter hin, steigen sie die Höhen anfänglich ziemlich steil an; doch dauert dieses nicht lange, so kommt man auf die schönsten gewölbten Gebirge in die Gegend von Annaberg, die auf beiden Seiten gegen Osten nach dem Pöhlfluß, und gegen Westen in das Tal der Sehme, nach und nach herabfallen und breite Täler machen. Die Gegend um Annaberg glaube ich mit allem Rechte unter die schönsten Gegenden unseres Erzgebirges setzen zu können. Die hohe Lage des Orts, die weiten Aussichten in das sich gegen Süden immer mehr erhebende Gebirge, die endlich am Horizonte, durch den sich über alle erhebenden Fichtelberg, begrenzet wird, gibt der Gegend ein so schönes und amphitheatermäßiges Ansehen, daß das Auge eines Freundes der Natur nie ermüdet. Was aber diese Gegend, und die weiter in das Gebirge gehenden Aussichten, teils vorzüglich malerisch macht, teils die Aufmerksamkeit eines Naturforschers besonders erregt, sind die, wegen ihrer ganz eigenen Gestalt bekannten drei Basaltberge: der Pöhlberg, der gleich bei der Stadt Annaberg, gegen Osten, liegt, der Bärenstein, welcher in ziemlich gerader Richtung zwei Stunden von Annaberg, gegen Süden, und der Scheibenberger Hügel, der in fast gleicher Entfernung von diesem Orte gegen Südwest liegt.”

Wir geleiten ihn noch auf den Fichtelberg. „Die Aussichten sind von diesem Berge, wie leicht zu erachten, abwechselnd, und aus verschiedenen Punkten desselben vortrefflich.” Wohl sei die Aussicht von den Bergen im Bezirke Annabergs „in Ansehung ihrer Weite” etwa mit der von der Tafelfichte nicht zu vergleichen, aber desto größer sei hier „der Eindruck bei dem Anblick so ungeheurer Massen der umliegenden Gebirge, deren Ausdehnung man auf verschiedenen Seiten, zu 5, 6 und mehreren Meilen übersehen kann.”

Einen besonderen Reiz für das Auge gewähren ihm in dieser Annaberger Landschaft die Täler. „Das Ansteigen der Gebirge in dieser Gegend, so wohl aus den Tälern als Schluchten, ist nicht so sanft, wie bei einigen vorher beschriebenen, sondern sie sind mehr stark gewölbt als in weite Ebenen verbreitet, wodurch denn im ganzen, wie ich gleich anfangs gesagt habe, ein mehr abwechselndes und für das Auge schönes Ansehen entsteht.”

Er vergleicht weiterhin Bilder anderer erzgebirgischer Städte mit dem von Annaberg nach Lage und Umgebung. Da kommt ihm die Gegend bei Johanngeorgenstadt „als eine der traurigsten in unserem Gebirge” vor, da man hier gegen Westen und Osten ganz eingeschlossen sei und nicht in entferntere Gegenden blicken könne. Dagegen erscheint ihm die Landschaft bei Schneeberg mit den prächtigen Aussichten von ihren Höhen „in die niederen Gegenden, und das gegen Süden und Osten aufsteigende hohe Gebirge, so schön, daß es zweifelhaft wird, ob man dieser, oder der vorhin beschriebenen Gegend um Annaberg, den Vorzug geben solle.”

Charpentier sieht die Umgebung Annabergs wie überhaupt das Erzgebirge mit dem Auge des berühmten Schweizers Albrecht von Haller. Dessen Gedicht „Die Alpen” behauptete sich trotz der scharfen Kritik, die Lessing an ihm übte, das ganze 18. Jahrhundert hindurch in hohem Ansehen. Seine am höchsten bewunderten Schilderungen waren die der Aussicht und des Wasserfalles. Da Hallers „Alpen” nicht hinauf in die Eis- und Gletscherwelt führten, sondern nur die untere, bewohnte und angebaute Zone des Hochgebirges besangen, so reizten sie dazu an, auch die Mittelgebirge Deutschlands in ihrer Art zu verherrlichen; sah man doch in ihrem Antlitz fast dieselben Wesenszüge wie in dem schneefreien Gebiete der Alpen. So begann man jetzt die Schönheit des Riesengebirges, des Harzes, des Thüringer Waldes und auch des Erzgebirges zu preisen.

So sieht der Pfarrer Oesfeld in Scheibenberg (später in Lößnitz) die Landschaft seines Wirkungskreises im Lichte der Alpendichtung Hallers. In seinen „Betrachtungen über die Herrlichkeit Gottes im Gebürge” (1767) schildert er die Aussicht, die er bei einem Spaziergange von der Höhe seines Städtchens aus genießt, geradezu mit Worten aus Hallers Gedicht „Ueber den Ursprung des Uebels”, die den Ausblick von einem Garten in Bern nach dem Jurg malen:

„Auf jenen stillen Höhen,
Woraus ein milder Strom von steten Quellen rinnt,
Bewog mich einst ein sanfter Abendwind,
In einem Busche still zu stehen.
Zu meinen Füßen liegt ein ausgedehntes Land,
Durch seine eigne Größ umgrenzet.
Worauf das Aug‘ kein Ende fand,
Als wo Jurassus es mit blauen Schatten kränzet.
Die Hügel decken grüne Wälder,
Wodurch der falbe Schein der Felder
Mit angenehmem Glanze bricht.”

Oesfeld hat einige Änderungen des Wortlauts (z. B. bewegt statt bewog) vorgenommen, da er das Erlebnis aus der Vergangenheit in die Gegenwart rückt. Auch Charpentier kannte Hallers Werke; er beruft sich gelegentlich auf sie. Freilich Wasserfällen von der Fülle und Höhe der schweizerischen begegnete er im Erzgebirge nicht, wohl aber Bergen mit prächtigen Aussichten, die ihn an Hallers Alpen gemahnen mußten.

Im Mai 1799 besuchte ein Mann von ganz anderer Geistesart als Charpentier Annaberg: Karl Ruchheim aus Leipzig. Sein Büchlein „Reise durch das sächsische Erzgebirge”, das er erst 1805 erscheinen ließ, schildert seine Wanderung von Waldenburg über Hohenstein, Stollberg, Geyer, Annaberg , Schwarzenberg, Schneeberg und Zwickau nach Chemnitz. Er schreibt offenbar unter einem Decknamen; denn selbst der ausgezeichnete Kenner des literarischen Lebens Leipzigs, Gustav Wustmann, hat unter den Schriftstellern dieser Stadt keinen Ruhheim entdecken können. Da er dem Bildungswesen besondere Aufmerksamkeit schenkt und darüber mit Kenntnis und Verständnis urteilt, muß man annehmen, daß er mit der Gelehrtenschule irgendwie in enger Verbindung stand. Er ist ein feingebildeter Mann, vertraut mit der besten Literatur seiner Zeit, mit den Dichtungen von Goethe, Schiller, Jean Paul, Burger, Salomon Geßner, Matthisson, Salis-Seewis u. a. Auf der Reise führte er Shakespeare mit sich. Sein reger Geist beobachtete in lebhafter Teilnahme alles Bedeutsame in Kunst und Wissenschaft, aber auch die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse der bereisten Gegend, Bergbau, Weberei, Spinnerei, Spitzenklöppeln und anderes mehr.

Er, der Schöngeist, betrachtete die Natur anders als Charpentier, der Mann realistischen wissenschaftlichen Denkens; er schaute die Landschaft mit dem Auge des „empfindsamen Klassizismus”, er schwärmte – wie bei Waldenburg – für die Schönheit des Gartens oder Parkes in englischem Geschmack, er versank etwa beim Anblick der mondbeschienenen Ruine Hoheneck in wehmütiges Sinnen über die Vergänglichkeit alles Irdischen.

Seinen Anmarsch nach Annaberg, den er von Geyer aus antrat, schildert er mit folgenden Worten: „Je näher ich nun Annaberg kam, desto höher und steiler wurden die Berge, und desto rauher und milder wurden die Landschaften. Schwarze dunkle Wälder dehnten sich über Berg und Tal. Die Berge des Erzgebirges sind meistens mit Wäldern bedeckt und sind mehr keulförmig als spitzig, welches ihr Ansehen noch milder macht. – Steinichter wurde nun der Weg, überall sah man Felsen und tiefe schauerliche Klüfte. Aber auch manches schöne grüne Tal diente grauen Felsenwänden zum Fußteppich, und muntern Herden zum Speisesaal und Tanzplatz. Liebliche Melodien füllten die melancholisch-düstern Wälder, von schwatzenden Echo’s vervielfältigt. Stolz heben die drei freistehenden Basaltberge, der Pöhlberg, Bärensteiner und Scheibenberger, ihre felsichten Häupter über die andern empor (so sind oft die höchsten Häupter eines Landes steinern und unfruchtbar) und schienen vor den übrigen die Sonnenstrahlen zuerst zu bekommen und dem Himmel näher verwandt zu sein. Die Sonne gab eben ihr prächtiges Abschiedsfeuerwerk und faßte die dunklen Berge in einen goldnen Rahmen. Tausend brennende Dächer und Fenster glänzten aus dem vor mir liegenden Annaberg herüber. Aber im Schweiße meines Angesichts mußte ich den steilen Berg erklettern, auf welchem es lag … Oefters mußte ich mich unter die vierfüßigen Tiere versetzen und die Hände mit eingreifen lassen, als Adzuvanten der Beine. Müde und matt langte ich endlich in Annaberg an.”

In dem Briefe vom 12. Mai – die ganze Reisebeschreibung ist in Briefform gekleidet – schildert Ruhheim nun den Eindruck, den er von Annaberg empfängt:

„Annaberg liegt auf der untern Hälfte des Pöhlberges – der gemeiniglich nur Pilbarg genannt wird – der sich dann hinter der Stadt noch eine Strecke erhebt, ehe er ganz steil und felsicht wird. Die Gegend um Annaberg ist eine der schönsten im oberen Erzgebirge, überall hat man die schönste Aussicht, den Greifenstein, die drei in meinem vorigen Briefe genannten freistehenden Basaltberge, hat man nebst dem Fichtelberge – diesem Goliath des Gebirges, fast immer vor Augen. Das Tal am Stadtberge ist sehr lachend, ein phlegmatischer Bach schleicht durch dasselbe und tränkt die grünen Wiesen, deren Anmut durch einzelne Felsen noch erhöht wird. Ringsum ist das Tal von den steilsten Bergen eingefaßt. Der Stadt gegenüber ist der Schreckenberg und links der Schottenberg, beide erscheinen fast unersteiglich und doch sind die schönsten Felder auf denselben.”

„Die Stadt selbst besteht ungefähr aus 610 Häusern, die gegen 4000 Einwohner enthalten. Die Stadt ist einer von den bestgebauten Mittelorten, die ich sah; ihre Häuser sind fast alle steinern, und mit Schiefer gedeckt. Große Gebäude findet man unter denselben nicht, sie sind aber meistens von gleicher Größe und reinlich abgeputzt, welches für das Auge einen weit bessern Anblick gewährt, als wenn große und kleine Gebäude, alte und neue so unordentlich, wie die Reichsarmee, unter einander stehen.”

(Fortsetzung folgt.)