Vor 100 Jahren als Gymnasiast in Annaberg.

Illustriertes Erzgebirgisches Sonntagsblatt 126. Jahrgang, Nr. 37, 10. September 1933, S. 1-2

Unter den hinterlassenen Papieren des Erzgebirgsschriftstellers Elfried von Taura *) finden wir eine Jugendbiographie desselben, die nur wenig bekannt geworden ist. Unser Interesse wird insbesondere geweckt durch die Schilderung seiner kurzen Gymnasialzeit in Annaberg, in der es u. a. heißt:

Im Spätsonner 1832 verfügte die Regierung die Auflösung des Marienberger Lyzeums (dessen Schüler Peters damals war) … Eines Morgens stand ich mit dem kühnen Entschluß auf, ohne Jemand etwas zu sagen, nach Annaberg zu wandern, mich am dortigen Gymnasium prüfen zu lassen und mich dann durch Freitische und Stundenhonorar dort durchzuschlagen. Gedacht, getan! Ich war bei guter Zeit in Annaberg und saß bald vor dem dortigen Lehrerkollegium als Examinand. Das Lesen der mir vorgelegten Lateiner und Griechen ging ausgezeichnet, aber beim Analysieren des Gelesenen stieß mein ehrwürdiger Examinator auf gewaltige Lücken. Es bestand ein merkwürdiges Mißverhältnis zwischen Theorie und Praxis bei mir; der grammatische Unterricht war in Marienberg geradezu erbärmlich gewesen und ich hatte außer dem Donatus noch nie eine Grammatik in den Händen gehabt, noch nie systematischen Unterricht in der Syntax genossen. Am Schlusse der Prüfung wurde ich infolgedessen nicht, wie man anfangs beabsichtigte, als Schüler der Oberklassen, sondern als Tertianer aufgenommen. — Ich eilte nun zu meinem Vater (der in Annaberg in Arbeit stand), welcher zögernd seine Zustimmung zu meinem Vorhaben gab. Mit dem Wirte, in dessen eigener Stube mein Vater wohnte und an dessen Tische er mit aß, wurde auch für mich ein billiges Abkommen getroffen, derart, daß ich auch das Bett mit meinem Vater teilen konnte. Ein neues Leben begann nun für mich. Nach wenigen Monaten saß ich bereits in Sekunda und sah mich überdies in der öffentlichen Prüfung mit einer Prämie — einer schönen Ausgabe der Ilias — belohnt. Freilich wäre es wünschenswert gewesen, man hätte mir lieber gleich sämtliche Autoren, welche in den Oberklassen gelesen werden, geschenkt und noch ein paar Lexika dazu, denn ich besaß weder die einen noch die anderen und mußte mich fortwährend des Borgens behelfen. Trotz meines Büchermangels machte ich fortwährend gute Fortschritte und erfreute mich der besonderen Zufriedenheit meines Klassenlehrers.

Nicht so gut ging es mir in meinen häuslichen Verhältnissen. Ein paar Lektionen fanden sich zwar bald, aber sie wurden nur kärglich bezahlt; auch die Freitische mangelten vielfach. Es fehlte mir noch sehr viel zu meinem Unterhalt, als mein Vater einer Einladung nach Böhmen folgte, wo ihm besserer Lohn gewährt wurde als in Annaberg. Er verließ mich mit der Zusicherung einer wöchentlichen Unterstützung von 10 Groschen. Ich quartierte mich nun bei einer armen Witwe ein, wo ich ein noch billigeres Unterkommen fand. Die Armen sind eben immer wieder an die Armen gewiesen und nur am Tische eines Armen mag der Arme sein Brot ohne ein Gefühl der Demütigung essen. Ich ließ es mir bei meiner stillen, armen Witwe sehr wohl sein. Sie hatte alle Tage sehr treffliche Kartoffeln, die mir köstlich mundeten; für Brot hatte ich besonders zu sorgen, aber das wollte nicht hinreichen; im schnellen Wachstum — ich schoß damals auf wie ein Lärchenbaum — entwickelte ich einen Löwenappetit und damals, sonst nie wieder in meinem Leben, habe ich öfters Hunger erlitten. Mein Leib wuchs zusehends über die Dimensionen seiner fadenscheinigen Umhüllung hinaus, meine Fußsohlen machten vertraute Bekanntschaft mit dem berüchtigten Annaberger Pflaster, während die langen Arme der kurzen Aermel spotteten. Eine kleine Verbesserung meiner Lage trat im Sommer 1833 ein, wo der Vater eines Mitschülers mich zum Mentor seines Sohnes erwählte. Derselbe war um ein Jahr älter als ich und wegen seiner Körperkraft und Wildheit der Schrecken der Schule. Der Vater selbst, ein wackerer Maurermeister auf einem benachbarten Dorfe, war des Unbändigen nicht Meister, ich sollte nun den Unbezähmbaren zähmen und wurde dafür mit Viktualien unterstützt. Ich machte mir ihn zu meinem Freund und lediglich dadurch übte ich bald einen großen Einfluß auf sein Gemüt aus. Oft besuchte ich später mit ihm seine Eltern, von denen ich hoch gehalten wurde. Die Stunden, die ich bei diesen guten Landsleuten erlebte, besonders die goldene Hochzeit der Urgroßeltern meines Stubenburschen, gehören zu den heitersten Erinnerungen meiner Jugend.

Das Leben unter meinen Annaberger Mitschülern sagte mir nicht besonders zu. Der Sinn für das Materielle stach auch hier hervor, und ein gewisser rüder Ton ließ bisweilen vergessen, daß man sich auf einer höheren Bildungsanstalt befand. Dieser rüde Ton war keinesfalls jener burschikose, dem bekanntlich etwas Romantik beigemischt ist, und der immer ein wenn auch auswüchsiger Sprößling eines in der Jugend löblichen Korporationsgeistes ist; im Gegenteil ging jener mit einem gänzlichen Mangel an Gemeinsinn Hand in Hand: Jeder lebte, spielte, trank und war roh auf eigene Faust, ebenso wie ein jeder den Dialekt seines heimatlichen Städtchens oder Dörfchens fortredete. In der Sprache dieser künftigen Bildner und Leiter des Volkes gab sich geradezu eine Widerspenstigkeit gegen jede Kultur kund. Besonders die Annaberger Patriziersöhne überboten durch ihr urwüchsiges Annabergisch die anderen nach Möglichkeit. — Der Korporationsgeist, welcher im bürgerlichen Leben ein Fehler ist, ist in der Jugend eher eine Tugend, denn er ist die dem menschlichen Entwicklungsgange angemessene Uebergangsstufe von der kindlichen Beschränktheit und Gebundenheit im Ich zur Hingabe an ein Gemeinwesen, zur Vaterlandsliebe. Das Heraustreten aus sich selbst und die Hingabe an dasb Allgemeine nimmt ganz naturgemäß zuerst die Form der Kameradschaft, der Vergesellschaftung gleicher oder verwandter Individualitäten an und erweitert sich erst dann allmählich zu einem höheren Gemeinsinn zum Patriotismus. Meine patriotische Begeisterung fand in Annaberg nirgends einen Anschlußpunkt und ich stand in dieser Hinsicht wie ein Einsamer da unter meinen Genossen. Dies, verbunden mit meinen gedrückten äußeren Verhältnissen, mußte nach und nach verstimmend auf mich einwirken. Ich sehnte mich nach einer Veränderung, und im Sommer 1834 griff ich wieder zum Wanderstab …

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Noch einmal — etwa um 1843 — war Peters auf kurze Zeit als Brandkassensekretär in Annaberg und dann wurde er später ein Opfer der Revolutionsjahre 1848/49. — Er war der vollendete Typus eines echten Erzgebirgers; schlicht und treuherzig, den ärmsten Volksschichten entstammend und ein warmherziger Heimatschriftsteller und Dichter.

*) Eigentlich: August Peters (geb. 4. März 1817, gest. 4. Juli 1864), von dessen Familie u. a. noch Nachkommen in Jöhstadt leben.

—cj.—