Aus dem Tagebuch eines alten Annabergers.

Illustriertes Erzgebirgisches Sonntagsblatt 129. Jahrgang, Nr. 50, 8. Dezember 1935, S. 6

Ein Beitrag für lebendige Familienforschung von Glaßmann jr., Wüstenbrand.

(Schluß.)

Wie man sieht, war es damals noch nicht so leicht, von und nach Annaberg zu reisen. Wo wir heute mit der Kraftpost oder gar auf Sonntags-Rückfahrkarte unser Reiseziel in wenigen Stunden erreichen können, nahm früher diese Reise oft einen ganzen Tag in Anspruch. Von sonstigen Unbequemlichkeiten der damaligen Reisemittel ganz abgesehen.

Trotzdem nahm unser Vorfahr nach seiner Lehrzeit eine Volontär-Stelle bei einem Hamburger Überseehandelshaus und später bei Firmen in Manchester und Notingham an. Nur gelegentliche Besuche führten ihn in die Vaterstadt zurück, über die das Tagebuch immer ausführlich und mit großer Liebe berichtet. – So fand z. B. 1857 zu Pfingsten wieder ein Familientreffen der Annaberger Verwandten in Wiesenbad statt: „Eine Menge Wagen brachte uns zunächst in Annaberg zur Kirche und ein aus Dresden herzugekommener Onkel nahm in der ganz angefüllten Kirche unter Glockengeläut die Trauung meines Bruders Arthur vor. – Mir erschien es wie eine Fürsten-Trauung. Anschließend fuhren wir nach Wiesenbad, wo feierliches Mittagessen stattfand: eine große Tafel im großen Zimmer und eine kleine Tafel für die Unverheirateten im gelben Zimmer. Mein Bruder Robert hielt einen sehr schönen Trinkspruch auf unsere Vorfahren. Gegen Abend reiste das junge Paar nach Chemnitz ab, wir anderen blieben noch in heiterer Stimmung bis gegen zwölf Uhr zusammen. Zum Schluß tanzten unser Vater und Onkel Moritz ein Menuett vor, welches wir jungen Leute nicht mehr kannten.

Im Mai 1858 war meine Lehrzeit zu Ende und ich kehrte nochmals für einige Zeit nach Annaberg zurück. Hier begann eine Epoche meines Lebens, die wohl jeder junge Mann nur einmal durchmacht, und die darum auch in meiner Erinnerung fortlebt. Es ist die Zeit, wenn der junge Mann in die Gesellschaft eintritt.

Ein flottes Leben in Wiesenbad begann. Beinahe täglich wurden Partien arrangiert, wobei ich gewöhnlich der Held war – so nach Falkenbach, nach Wiesa und einmal sogar eine große Omnibusfahrt nach den Greifensteinen. Am Jahrmarktstag veranstalteten wir ein Vogelschießen für Herren und Damen. Wir tanzten Polonaise und später einen Cotillon. Die Buketts dazu flochten die verheirateten Damen während des Tanzes und wurden kleine Butter Bemmchen usw. mit eingebunden.

Am 15. und 16. Juli war Bergfest in Annaberg und beteiligte ich mich hierbei sehr stark am Tanzen. Ebenso fand im August ein großes Annaberger Armbrust-Schießen und eine Woche darauf der Besuch des Königs Johann statt, welcher außerordentlich gefeiert wurde. Am Buchholzer Tor war eine große Ehrenpforte, im „Museum” großes Diner, abends Illumination und am anderen Abend ein Fackelzug von vierhundert Mann. – Der König fuhr in unserem Wagen und extra an unserem Haus vorbei, als er zu Eisenstuck & Co. fuhr.

Annabergs Festschmuck anläßlich des Königsbesuches vom 24. bis 26. August 1858 (nach einer alten Lithographie.):

Tor
Außenseite des Triumphbogens am Buchholzer Tor mit Blick in die Buchholzer Gasse.
Tor
Innenseite des Triumphbogens am Wolkensteiner Tor.
Marktplatz
Bild des Marktplatzes (mit Bergparade).

Ebenfalls im August fand ein Schulfest der Realschule statt, welches ich nach fünf Jahren wieder einmal besuchte. Am 26.11.1859 fuhr ich das erste Mal von Hamburg nach Hause und zwar über Berlin, wo die Mitbringsel – Austern und Porter – bei der Verzollung eine ziemliche Schinderei waren. In Annaberg fand ich zwar einige alte Schulkameraden, jedoch keinen der wirklichen alten Freunde, die ich mich wiederzusehen gefreut hatte. – Wir fuhren natürlich wieder nach Wiesenbad, wo ich die neuen Maschinen in der Flachsspinnerei besah. – Ein andermal war ich mit Bruder Rudolf im Odeon und blieb bei Tanz und Unterhaltung bis gegen fünf Uhr früh. Am 2. Dezember war ein großer Ball der „Cuterpe”, der jedoch sehr schwach besucht war, am nächsten Tag Schlittenfahrt und Ball in der „Erholung”. Tags darauf gab Bruder Rudolf ein Frühstück für seine alten Kollegen.“

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Die Tagebuchaufzeichnungen lassen ein lebendiges Bild vom Leben und Treiben einer noch nicht allzuweit zurückliegenden Zeit aufsteigen. Wir lesen daraus, daß die wohlhabenden Kaufmannsfamilien recht gut zu leben verstanden, aber auch in tiefer Treue an der erzgebirgischen Heimat hingen. Vielleicht finden sich in Familienbesitz ähnliche Niederschriften, die der Öffentlichkeit zugängig gemacht werden könnten. Wir werden es begrüßen, wenn uns Beiträge dieser Art zur Verfügung gestellt werden.

cj.