Peter Gast.

Einige Andeutungen von Friedrich Götz, Annaberg.

Erzgebirgisches Sonntagsblatt 119. Jahrgang, Nr. 39, 26. September 1926, S. 1

Peter Gast * 1854. + 1918.
(Photographie von Föppel-Annaberg)

An Peter Gast wird gewähnlich als den Freund Friedrich Nietzsches, seinem Vorleser, Diktatschreiber, Herausgeber und schließlich auch als an den Musiker gedacht, dem Nietzsches Bewunderung zuteil wurde. All dies ist nicht unzutreffend; es ist aber meist schief und mißverständlich dargestellt worden, auch haben solche Darstellungen neue Mißverständnisse bedingt. Es gibt noch keine Würdigung Gasts, die der Gestalt Gasts entspäche, die mir auf Grund persönlichen Umganges und nach meiner Einsicht in Gasts Nachlaß vor der Seele steht. Ich muß es mir hier versagen, Gasts Leben und Wesen erschöpfend in dieser Weise darzustellen, will aber auf einiges hinweisen, von dem aus man einen Zugang gewinnen kann zu dem, was Gast eigentlich war.

Zunächst will ich den Lebensweg Gasts in einer großen Linie zeigen.

Unbekanntes Jugendbildnis von Peter Gast
Nach einer Federzeichnung (aus dem Besitz von Stadtkantor Neumann, Annaberg), welche 1878 in Venedig entstand.

In jenem jedem Annaberger bekannten Hause am Köselitzplatz (Nr. 1), das mit spitzbogigen Fenstern in das Grün der Teichpromenade blickt, wurde Gast am 10. Januar 1854 geboren. Frühzeitig – schon als Knabe – unternahm er, nach einem von ihm selbst gegebenen Bericht, „durch Seume inspiriert“, weite Fußwanderungen, die sich in seinen Mannesjahren zu weiten Reisen auswuchsen, die mit langen Aufenthalten in fremden Ländern verbunden waren. Gast kam nach der Schweiz, nach Italien, lebte vor allem lange Zeit in Venedig, er kam nach Oesterreich, Süd- und Norddeutschland, schließlich nach Weimar und die letzten acht Jahre seines Lebens wieder nach Annaberg in eben das Haus am Köselitzplatz, das er einen Tag vor seinem Tode verließ, um sich ins Krankenhaus zu begeben. Hier starb er am 15. August 1918.

Das Peter Gast-Haus am Köselitzplatz

An einem Julisonntag des Jahres 1918 war es, als ich mit Gast in seinem Studierstübchen saß. Wir hatten uns über dies und das unterhalten. Da fiel mein Blick auf ein älteres Büchlein, das neben einer Opernpartitur auf dem Schreibtisch lag, so, als ob es Gast immer benutze. Es war Seumes „Spaziergang nach Syrakus“. Sogleich kamen wir in unserem Gespräch auf den Verfasser, und dann sagte Gast mit einem mir unvergeßlichen Gesichtsausdruck: „Mit diesem Buche hat mein eigentliches Leben begonnen, es soll auch mein Leben beschließen.“ Am dritten darauf folgenden Sonntag standen wir am Sarge Gasts. –

Als ich mit der Ordnung des musikalischen Nachlasses beschäftigt war, kam mir ein unbeendigter Klavierauszug unter die Hände, der mit der zunehmenden Zittrigkeit und Undeutlichkeit der sonst so einzigartigen Schrift Gasts die wachsende Entkräftung und Augenschwäche des schwer Leitenden erkennen ließ. Es war der Klavierauszug zu einer Walzersuite, der deutlich ein Walzer zu Grunde liegt, den Gast als Vierzehnjähriger zu einer Familienfestlichkeit komponiert hatte. –

Dieses Leben, dessen Ende sich mit solch einer Deutlichkeit äußerlich und innerlich zum Anfang findet, ein Leben, dessen Träger mich seinem Wesen nach – natürlich mit einiger Freiheit des Vergleichs – mehr an Ludwig Richter, Adalbert Stifter, Gottfried Keller, Goethe als an Kleist, Schiller, Dostojewsky, Nietzsche erinnert, dieses Leben hat lange Zeit neben dem Nietzsches gestanden, das sich aus dunklem Urgrund in schweren Kämpfen losrang und in steiler Kurve dämonisch einem Lichtreich zustrebte, bis daß es, von der Ueberfülle geblendet, zerbrach. „Singe mir ein neues Lied! Die Welt ist verklärt, und alle Himmel freuen sich.“ Dies die letzten Worte Nietzsches an seinen Freund. –

Wie ganz anders war Gast! „Ich liebe alles, was Licht und Sonne heißt und was daraus folgt: Freude und Wohlsein im Geistigen, wie im Leiblichen.“

Sagt nicht Zarathustra an einer Stelle: „Trachte ich denn nach Glücke? Ich trachte nach meinem Werke!“

Auf diesem Grunde, der Unterschiedlichkeit Nietzsches und Gasts, steht die Freundschaft der beiden, und ihre feste innere Bindung erhielt sie dadurch, daß beide ihrem innersten Wesen die Treue hielten. Aus dieser Perspektive heraus sind auch die schönsten Dokumente dieser Freundschaft ohne jegliche Deutelei richtig zu verstehen, die Briefe, die beide wechselten und die zwei stattliche Bücher füllen.

Ich führe hier nur einiges an, um das tiefe Entzücken des ruhelosen, jagenden Nietzsche zu zeigen ob seines in der glitzernden Stille Venedigs schaffenden „maestro“, um das bewundernde Aufschauen anzudeuten des epikureischen Künstlers zu dem, den er von Anfang an als einen der gewaltigsten Lehrer der Menschheit erkannt hatte.

Nietzsche schreibt an seinen Freund Karl von Gersdorf: „Morgen breche ich auf und gehe für ein paar Monate nach Venedig. Ich bin sehr augenleidend und sehne mich nach dem Dunkel seiner Gäßchen. Zuletzt ist es die einzige Stadt, die ich liebe. Und dann ist der einzige Musiker dort, der Musik macht, wie ich sie liebe, nämlich unser Freund Peter Gast. Weißt Du wohl, was den goldigen Glanz des Glückes, was echte Naivität, was Meisterschaft im Sinne alter Meister betrifft, so ist dieser Gast jetzt unser erster Komponist.“ Im Mai 1888 schreibt Nietzsche an Gast: „Ihre Musik! Dieselbe ist mit meinem Begriff „Frühling“ zusammengewachsen … ungefähr so, wie das sanfte Glockenläuten über der Lagunenstadt mit dem Begriff Ostern. So oft mir eine Ihrer Melodien einfällt, bleibe ich mit einer langen Dankbarkeit an diesen Erinnerungen hängen: ich habe durch nichts so viel Wiedergeburt, Erhebung, Erleichterung erfahren, wie durch Ihre Musik. Sie ist meine gute Musik par excellence, für die ich innewendig immer ein reinliches Kleid anziehe als zu allem anderen.“ –

Hatte Gast schon bei xder Lektüre der „Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik!“ den Eibdruck, daß diese erste Schrift Nietzsches ein „Riesenprotest des künstlerischen und heroischen Menschen gegen die willenschwächenden, instinktauflösenden Konsequenzen unsrer alexandrinischen Kultur sei“, so wuchs bei ihm die Bewunderung der ihm immer gleich im Entstehen von Nietzsches Schriften zuteil werdenden Kenntnis des Nietzscheschen Gedankenfluges. Auf Nietzsches Frage, unter welche Rubrik „Also sprach Zarathustra“ gehöre, antwortete Gast: „Ich glaube fast, unter die heiligen Schriften.“ Bei der Rücksendung des ersten Korrekturbogens vom Zarathustra schreibt Gast an Nietzsche: „Die prachtvolle Wendung Ihres Geistes, die Kraft Ihrer Sprache, die Fülle von Erfindung bis ins Kleinste hinein, die Glut und Majestät Ihrer Empfindung – machen mich staunen, regen mich auf, zittern in mir nach, soweit es mein Vermögen hergibt. Wie viel Wachstum um sich verbreiten Sie mit Ihrem eigenen! Es gibt nichts dergleichen, – weil die Ziele, welche Sie angeben, der Menschheit von Niemandem noch angegeben wurden, angegeben werden konnten! Diesem Buch ist die Verbreitung der Bibel zu wünschen.“

Mit diesen Erwähnungen mag es genug sein und es glaubwürdig erscheinen zu lassen, was ich anfangs sagte: daß Nietzsche und Gast ihrem inneren Wesen nach zwei ganz verschiedene und deshalb vielleicht sich um so stärker anziehende Naturen waren, daß es aber Phantasmagorien übelster Art sind, wenn man meint, Gast sei eine Art Kopie von Nietzsche, als Musiker vielleicht ein Produkt Nietzsches, eine Art Anti-Wagner oder gar ein Musiker, der Nietzsches Philosophie in Tönen predige. Diese Auffassungen erweisen schon als bloße Konzeptionen ihren Urhebern keine sonderliche Ehre; in noch größerem Maße wird aber Peter Gast damit Unrecht getan, auch können sie vor Nietzsche nicht bestehen.

Gast war ein durchaus Eigener, vor allem Musiker, dann Nietzsches Freund und ganz zuletzt, wenn überhaupt und je nach dem, was man darunter versteht, Nietzscheaner.

Damit soll das, was Gast für Nietzsche getan hat, nicht gering geschätzt sein. Nannte sich Gast selbst zuweilen den „Vorleser“ und „Schreiber“ Nietzsches, so muß man auch hier, wie bei allem, was aus Gasts Munde oder Feder floß, streng zwischen seinen Artigkeiten und seinen Wahrheiten unterscheiden, vor allem dort, wo beide in einander stecken. In einer bekannten Musikzeitschrift erschien einst eine umfangreiche, aber alle möglichen Ausstellungen verdienende „Würdigung“ Peter Gasts. Gast dankte dem Verfasser und ermunterte ihn, seine Fähigkeiten und Kräfte der deutschen Kultur besser nutzbar zu machen, indem er sich um andere als solch „belanglose“ Menschen wie ihn bemühen soll. Gast wurde aber nicht verstanden. Vielmehr stachen die Federn in die Tinte und ereiferten sich nun ob der „übermäßigen Bescheidenheit“ des „liebenswürdigen Musikers“. Gast hat selten eine so zwerchfellerschütternde Heiterkeit geäußert, sei es in seinen Niederschriften, sei es in der Unterhaltung mit Dritten, wie gerade bei dieser Begebenheit. Als er mit mir auf die eben mitgeteilte Sache zu sprechen kam, sagte er: „Unter Deutschen findet man nicht den geringsten Geruch dafür, was der Romane Witz nennt. Viele Jahre habe ich unter Romanen gelebt und das Beste, was ich mit heimbrachte ist, daß ich tausenderlei Gelegenheiten zum Lachen habe, bei denen der Nordländer – wie man zu sagen pflegt – bestenfalls ein geistreichen Gesicht macht.“

Ich frage im Ernst: „Was ist Göttlichkeit, wenn nicht dieses?“