Die Annaberger Straßennamen.

Erzgebirgisches Sonntagsblatt 119. Jahrgang, Nr. 34, 22. August 1926, S. 6

Heimatkundliche Plauderei von Emil Finck.

(Fortsetzung.)

Zur Ermittelung darüber, wie’s früher war, genügt es schon, zwei ausführliche Stadtbeschreibungen aus alter Zeit — nämlich die Aufzeichnungen der Rektoren Arnold und Richter — nach dem Vorhandensein von Annaberger Straßen zu befragen. Ersterer beendete sein deutsches „Chronicon Annaebergense” handschriftlich im Jahre 1658, letzterer ließ die ersten beiden Bände seiner umfänglicher geplanten „Umständlichen Chronica” 1746, bezw. 1748 erscheinen. Beide geben die Zahl der Gassen im Innern der Stadt auf 37 an, und zwar „große und kleine zusammengezählet”, wie ausdrücklich hinzugefügt wird. Einzelne Gehöfte, Häuser oder Bergwerke, deren jedes einen besonderen Namen führte, gab es vor den Toren damals auch schon.

Von den Gassen findet man bei Arnold nur folgende zwölf mit Namen aufgeführt: Große und Kleine Kirchgasse, Röhrgasse, Sommerleite, Wolkensteinergasse, Fleischergasse, Klostergasse, Münzergasse, Frohnauergasse, Buchholzergasse, Badergasse und Scheerbank. Richter ergänzt die Reihe noch durch die Silberstraße, die er aber — ob versehentlich oder mit gutem Bedacht, bleibe unermittelt — anstatt ins „Kleine Viertel”, wo wir sie suchen, ins „Münzerviertel” verlegt. Das ist unterhalb, statt oberhalb der Buchholzergasse. Außerdem werden von beiden Chronisten noch die fünf Tore und die beiden ältesten Pforten (9), das Klosterpförtlein und das Stufenpförtlein erwähnt, sowie Markt, Holzmarkt, Strohmarkt, Brotmarkt, Säumarkt, Topfmarkt und Kirchhof ausdrücklich genannt. Diese sieben Plätze scheinen in die Gesamtzahl der Gassen nicht mit eingerechnet gewesen zu sein. Demnach ist anzunehmen, daß man vor alters sich begnügte, innerhalb der Stadtmauer 44 Gassen und Plätze zu unterscheiden, und von diesen im ganzen 20 mit Namen bezeichnete, die als im ererbten Sprachgebrauche festgewurzelt für damals schon dauernde Gültigkeit erlangt hatten. Diese Zahlen sind jedoch bei einem Vergleiche mit jetzt wieder um drei zu vermindern, weil die Bezeichnungen Holz-, Stroh- und Säumarkt nur auf erweiterte Teile der jetzigen Wolkensteiner Straße und Kleinen Kirchgasse bezogen wurden und demnach jetzt überhaupt nicht mehr in Betracht kommen können. Von den übrigen 24 gezählten Gassen heißt es in den erwähnten Schriften, sie seien „Quergäßlein, so keinen besonderen Namen haben.”

Außerhalb der Ringmauer wurden noch im Jahre 1746 keine bestimmten Straßenzüge und Häusergruppen unterschieden. Richter schreibt darüber fast wörtlich: Die Stadt hat keine Vorstädte, sondern es stehen vor den Toren etliche Häuser, Scheunen, Vorwerke, Gärten usw. Sonderlich wohnen die Töpfer vor dem Böhmischen, Frohnauer und Wolkensteiner Tore. Zum Bergwerke gehören die Hütten. Im Grunde stehen zwei Schmelzhütten und Pochwerke — darinnen die Metalle gepochet, gewaschen und reingemacht werden, sonst auch geschmelzet und abgetrieben wurden. Vor dem Böhmischen Tore sind die Ziegelscheune, das Röhrhaus, das Schießhaus, das 1507 aufgerichtet worden ist, wie auch die Vogelstange. Vor dem Wolkensteiner Tore ist „der Hospital”, die Hospitalkirche und der Gottesacker, sowie einige Vorwerke nebst dem schönen Genselschen Lust- und Küchengarten. Es stehen auch hie und da Kauen und Zechenhäuslein auf den Schächten und unten im Grunde die Walkmühle und die Herrenmühle.

Heute (1910) haben wir mit 125 benannten Straßen, Gassen, Plätzen und Quergäßlein zu rechnen, von denen 75 innerhalb der ehemaligen Ringmauer — 50 außerhalb derselben gelegen sind. Unter den 75 Wegen und Plätzen der „innern Stadt” sind 13 vorhanden, denen Hausnummern nicht zugezählt werden, obwohl sie zum Teil oder vollständig von bebauten Grundstücken begrenzt sind. Deren Benennung dient daher weniger dem allgemeinen Orientierungsbedürfnis als vielmehr zur Vereinfachung des Schreibwerks im Verwaltungswesen: bei bauamtlichen oder grundrechtlichen Auseinandersetzungen, polizeilichen Maßnahmen usw. Solche sind in alphabetischer Folge: Brunnengasse, Korngasse, Kupfersteig, Laubengasse, Mendegäßchen, An der Mauer, die breit angelegte Neuegasse, ferner Rubnergasse, Sperrgasse und Tuchmachergasse, sowie der Karolinenplatz und die beiden Kirchplätze. Von den 50 außerhalb der Mauer gelegenen Straßen sind 1906 unbebaut oder wenigstens zur Zeit noch ohne zugehörige Hausnummern gewesen folgende sechs: Bahnhofsteig, Felix-Weiße-Straße, Am Michaelisstollen, Schlösselweg, Theaterfreitreppe und Schillerplatz.

Vergleicht man die angeführten Zahlen, so ergibt sich ein sehr auffälliger Unterschied zwischen den Angaben der beiden Stadtchronisten Arnold und Richter und dem uns vorliegenden Adreßbuche. Jene rechnen im Stadtinnern 44 (41) Gassen und Plätze auf — uns sind in demselben Bereiche 75 Namen geläufig. Ein Mehr von 31, bezw. 34!

Wer mit den früheren Verhältnissen der Stadt nicht vertraut ist, ihr Werden und Wachsen nicht überschaut, dem kann sich leicht die Vermutung aufdrängen, daß innerhalb der letzten 160 Jahre (seit Richter) eine bemerkenswerte Umgestaltung des Stadtplans innerhalb der ehemaligen Ringmauern erfolgt, eine ansehnliche Aufschließung des eingeschlossen gewesenen Baugeländes bewirkt worden sein müsse.

Der Kundige aber weiß bestimmt, daß das nicht der Fall gewesen ist. Die alten Stadtpläne gleichen den jetzigen in Bezug auf die Grundanlage fast durchgehends. (10) Zwar ist nach dem großen Brande im Jahre 1837 zwischen der Kleinen Kirchgasse und den Sommerleiten in der Neuegasse eine bequemere Verbindungsstraße geschaffen worden und nicht viel später auch der jetzt als Stufenweg bezeichnete Durchbruch nach außen erfolgt, wohl sind auch bei Niederlegung der Ringmauer noch mehrere Straßenzüge nach außen zu weitergeführt worden, so daß sie an Bedeutung für den Durchgangsverkehr gewonnen haben: Pfortengasse, Scherbank, Pfarrgasse, Mariengasse, Turnergasse, Seminargasse, Untere Schmiedegasse, Feldgasse und die beiden Badergassen — aber eine weitere Bereicherung bedeutet das keinesfalls. Und dem steht entgegen, daß der Zugang zum Stufenpförtel dem Bambergschen Grundstücke an der Johannisgasse (Hausnummer 19) hinzugeschlagen und auch der alte Weg durch das Stadtbadgrundstück nach dem Frohnauer Tore zu in Wegfall gekommen ist. Es bleibt daher nur die Annahme bestehen, daß die Chronisten bei ihrer Aufzählung andere Gesichtspunkte maßgebend sein ließen als die derzeitige Stadtverwaltung.

Von den außerhalb der Stadt gelegenen Straßen gehören drei dem Gebietsteile an, das die Stadt mit Beginn des Jahres 1872 von dem angrenzenden Dorfe (jetzt Ortsteil) Kleinrückerswalde erworben hat. Es sind dies: Talstraße, Am Emilienberg und Bismarckstraße. Als vierte kommt dazu noch der Reischdorfer Weg, welcher bei der Zählung sonst allerdings unberücksichtigt bleibt. Die Bismarckstraße führt übrigens so an der Flurgrenze entlang, daß an ihr eine ganze Häuserreihe der Nachbarstadt Buchholz erbaut worden ist. Gleiches ist an der Grenzstraße von Kleinrückerswalde aus geschehen.

In Anbetracht der früher so kläglich durchgeführten Straßenbenennung kann es dem heutigen Geschlecht verwunderlich erscheinen, wie sich die Zeitgenossen eines Adam Ries, eines Jenisius, Arnold oder Richter in der Stadt zurechtgefunden haben, und wie es ermöglicht ward, Fremdlinge in ihr zurecht zu weisen. Es hat ja Zeiten gegeben — wie bald nach Beginn des 16. Jahrhunderts — in denen Annaberg etwa 10 000 Einwohner und rund 1000 Wohnhäuser zählte.

(Fortsetzung folgt.)

9) Beide sind jetzt noch in vermauertem Zustande vorhanden. 1837 ist im Südosten ein Mauerdurchbruch geschaffen worden: das Neutor, das scherzweise nach einer anwohnenden Familie Kaphahn als das „Kopenhagener Tor” bezeichnet ward.

10) Einen sorgfältig bearbeiteten Stadtplan enthält die bereits erwähnte Chronik des M. Paulus Jenisius, die im Jahre 1605 erschienen ist. Eine Nachbildung desselben wurde bereits im I. E. S. veröffentlicht. — Im Jahre 1759 beauftragte Bürgermeister Christoph Joseph Rubner, der sich auch des Stadtarchivs ordnend angenommen hat, den Malermeister Konrad Ferdinand Cronewald mit der Herstellung einer großen Übersichtskarte des städtischen Weichbildes, die vor der Übernahme sorgsam auf ihre Richtigkeit geprüft worden ist. Sie ist im Erzgebirgsmuseum zur Schau ausgehängt.