Hungerszeiten im Obererzgebirge.

Erzgebirgisches Sonntagsblatt 119. Jahrgang, Nr. 20, 16. Mai 1926, S. 1

Die feierliche Einbringung des ersten Getreidewagens nach der Teuerung 1816/17 am 16. August 1817 durch die Buchholzer Straße in Annaberg.
Erklärung der Häuser von links nach rechts: Rathaus, Buchholzer Str. Nr. 1 Zeidler, Nr. 3 Ludwig, Nr. 4 Nendel, Nr. 5 Schwotzer, Nr. 7 Julius Wagner, (Silberstr.), Nr. 11 Kirmse, Nr. 13 Stahns, Nr. 15 Hempel, (Siebenhäusergasse), Nr. 15a Grunzel, Nr. 17 Tauchmann.
(Das Original des Bildes befindet sich im Altertumsmuseum und ist s. Zt. von dem Taubstummen C. G. Gross gezeichnet worden.)

Die Jahre 1815 und 1816 brachten große Mißernten, und nicht nur unser Gebirge, sondern das ganze Land, ja, man kann sagen, ganz Europa wurde davon heimgesucht. Das arme, volkreiche Gebirge wurde unter solchen Verhältnissen immer am schwersten betroffen und die Not wurde hier noch schrecklich dadurch vermehrt, daß alle Geschäfte infolge des schon 25 Jahre anhaltenden französischen Krieges darniederlagen.

Die Nahrungslosigkeit hatte die höchste Stufe erreicht. In diesen schweren Bedrängnissen und bei den traurigen Aussichten auf den Winter waren daher die hiesigen Handlungen von Eisenstuck mit 6000 Taler, Glumann mit 2000 Tlr., Glöckner usw. mit 1500 Tlr. und Gerhard mit 1000 Tlr. Beiträgen einem großen patriotischen Unternehmen beigetreten, das während der Leipziger Michaelismesse 1816 sämtliche erzgebirgische Fabrikanten und Kaufleute zu einem bedeutenden Getreideeinkauf im Ausland begründet hatten.

Zur Leipziger Neujahrsmesse 1817 trafen nun die aufgekauften Getreidevorräte zu Schiff in Meißen ein. Sie wurden abgeholt, gemahlen und das daraus gebackene Brot hierauf an die Arbeiter jeder Fabrik und Handlung, wie auch an sonstige Bedürftige zu billigem Preise abgelassen.

Außer diesem patriotischen Unternehmen flossen dem ganzen Gebirge auch noch sonstige Spenden von edlen Menschenfreunden zu, insbesondere taten die auswärts wohnenden Annaberger sehr viel an den Armen ihrer Vaterstadt.

Der 21. Januar 1817 war zur ersten Brotverteilung bestimmt, und zwar nachmittags 1 Uhr im Haus des damaligen Viertelsmeisters Vogel auf der Wolkensteiner Gasse (jetzt Nr. 17a). Als aber dieselbe vor sich gehen sollte, konnte man sich kaum durch die Menge der Bittenden hindurchdrängen, so groß war ihre Zahl, während der Vorrat der zur Verteilung bestimmten Brote nur 100 Stück betrug und man somit nur den Allerbedürftigsten geben konnte, die übrigen aber auf einen anderen Tag vertrösten mußte. Solche Brotverteilungen fanden nun während der Teuerung aller 14 Tage statt, und eine jedesmalige Verteilung und der Verkauf erreichte die Summe von 900 sechspfündigen Broten. Drei Teile von diesem Brotquantum wurden nämlich zu billigem Preis, und der vierte Teil wurde notorisch armen Eltern, Alten, Siechen und Gebrechlichen unentgeltlich gereicht. Im ganzen wurden 8278 Brote an 2226 Personen abgegeben.

Lassen wir an dieser Stelle noch die verschiedenen Brotpreise bei der Backanstalt, sowie den Preis bei den Stadtbäckern folgen.

Brotpreise der Backanstalt: Januar – Juli: 4 Gr. 6 Pfg., Juli – August: 3 Gr. 6 Pfg., August – September: 2 Gr. 6 Pfg. für ein Sechspfundbrot.

Brotpreise der Bäcker: Januar – Juni: 8 – 8½ Gr., Juli – August: 6½ – 8 Gr., August – September: 5 – 5½ Gr. für ein Sechspfundbrot.

Außer dieser unseren Armen während der Teuerung so wohltuenden Backanstalt wirkte auch der hiesige Frauenverein kräftig durch Errichtung einer Suppenanstalt. In derselben wurden vom 4. Februar bis zum 31. Oktober 1817  30 835 Portionen Suppe teils unentgeltlich, teils gegen Bezahlung (pro Portion 6 Pfg.) verabreicht. Die Empfänger erhielten bei Frau Haupteinnehmer Müller Zeichen, die allemal Tags vorher, ehe die Verteilung stattfand, abgeholt werden mußten. Die Suppenverteilung fand wöchentlich dreimal statt.

Anderweite Wohltaten erwuchsen der Stadt durch den damaligen Superintendenten Mag. Lommatzsch. Dieser bewirkte durch seine Verbindungen mit auswärts eine Unterstützung von 130 Scheffeln Kartoffeln und 165 Scheffeln Getreide; von letzterem wurden 75 Scheffel in der Backanstalt verwendet, das übrige aber an Bedürftige der Umgegend verteilt. Die vorerwähnten Kartoffeln wurden das Dresdner Viertel zum billigen Preise von 9 Groschen verkauft und das daraus gelöste Geld zum Einkauf von Getreide verwendet. Das aus dem Getreide gebackene Brot wurde auf dem Rathaus zu 4 und 5 Gr. für sechs Pfund an Bedürftige verkauft und so sieben Wochen lang fortgefahren, binnen welcher Zeit 4396 Brote gebacken und verkauft werden konnten und dann noch ein Überschuß von 110 Taler 16 Gr. 2 Pfg. blieb, der bei den Stiftungen am Reformationsjubiläum seine Verwendung fand. – Von den 130 Scheffeln Kartoffeln erhielten auch 551 Personen den Samen zum Auslegen, das Viertel zu 9 Groschen.

Selbst unser damals in Frankreich stehendes Militär schickte zur Unterstützung der Notleidenden im Erzgebirge 2831 Taler 9 Gr. 4 Pfg.

Nicht minder dachten die Bergleute auf Eisleben-Mansfeld und Hettstädtischem Revier an ihre notleidenden Grubenbrüder, als sie die Nachricht erhielten, daß mancher brave Bergmann und bedrängte Familienvater, ohne einen Bissen Brot genossen zu haben, seine Schicht beginnen mußte; sie schickten die Summe von 1536 Taler zur Unterstützung dieser Armen an das Oberbergamt zu Freiberg, durch welches diese Summe an bedürftige Bergleute des Erzgebirges verteilt wurde.

So gingen während der schweren Prüfungszeit 1816/17 dem Gebirge und unserer hart betroffenen Stadt Liebesgaben aus allen Gegenden zu, bis endlich durch Gottes allmächtige Vatergüte auch diese Not von unseren Vorfahren abgewendet wurde; das Erntefest am 16. August 1817 gestaltete sich zu einem echten und rechten Dankfest.

Unsere Zeitung berichtet darüber wie folgt:

Erntefest zu Annaberg.

„Auch hier sahen wir am 16. Augusts ein schönes und rührendes Fest. Es wurde an diesem Tage der erste Wagen mit dem geernteten Getraide eingefahren. Auf Anregung einiger hiesiger Bürger wurde dies Dankfest auf folgende Art gefeyert:

Mädchen, höherer und niederer Stände, alle weiß und anmuthig gekleidet, mit Kränzen in den Haaren, die wohllöbl. Schützencompagnie, viele Bürger und angesehene Männer der Stadt, die Herren Bergofficianten, die Herren Schullehrer und die Herren Geistlichen gingen dem Kornwagen vor’s Buchholzer Thor entgegen und führten ihn mit dazu passender Musik und unter Geläute der Glocken herein, bis vor die Hauptkirche, wo der Magistrat sich versammelt hatte und von dem verdienstvollen Superintendenten M. Lommatzsch eine der Gelegenheit anpassende und herzerhebende Rede, welche die zahlreiche Versammlung zu Thränen rührte, gehalten wurde. Diese Andacht wurde mit Gesang: „Nun danket alle Gott“ beschlossen, und der Getraidewagen wieder, wie zuvor, bis ans Thor begleitet.”