Vom Landheim des Staatsrealgymnasiums Annaberg.

Erzgebirgisches Sonntagsblatt 119. Jahrgang, Nr. 17, 25. April 1926, S. 1

Eine Würdigung seiner Ziele anläßlich der Reichsgesundheitswoche. Von Studienrat Dr. Nicolai.

Umrauscht von Erzgebirgsfichten liegt das Heim mit seiner Spielwiese auf der Anhöhe vor Jöhstadt (Aufgenommen von Studienrat Langer)

Ein Bild aus vergangenen Tagen: hinter einem Wall von Büchern im dumpfen Zimmer sitzt er, den krummen Rücken tief gebeugt, den schwachen Brustkorb eng eingezwängt, fahle Gesichtsfarbe wie die Pergamentbände auf den Bücherbrettern, auf die Brille noch einen Klemmer gezwängt, denn die vom Studieren verdorbenen Augen können die Buchstaben kaum entziffern, und eifrig sucht er im Homer nach Proben jonischer und äolischer Mundart – der Primus omnium.

Ein Bild von heute: schweiß- und staubbedeckt wird der junge Mann vom Sportplatz geführt, die Adern im Gesicht geschwollen zum Platzen, die Augen hervorgequollen aus grobknochigem Antlitz, blutunterlaufene Stellen an den Waden, wo grobe Spieler der Gegenpartei ihre Spuren hinterlassen haben, nun gehts zur nächsten Kneipe, wo bis zur Mitternacht bei Bier und Tabak gefeiert wird, daß Fußballklub Teutonia gegen Frankonia mit 6:2 gesiegt hat.

Beim Kürturnen vor dem Heim (Ristwell-Abgang, Studienrat Oschatz) (Aufgenommen von Studienrat Langer)

Beide Bilder stellen nicht Ideale dar. In Einseitigkeit kann geistige Überfütterung zum Schaden werden wie körperlich übertriebene Ausarbeitung schließlich eine Entartung darstellt. Das richtige Maß zu finden, das „Maßhalten” der alten Griechen, ist Aufgabe der Jugenderzieher der Gegenwart. Ein Versuch, den unter heutigen Verhältnissen denkbar besten Weg zu finden, ist mit der Errichtung von Schullandheimen gemacht worden.

Der alte Homer wird unter den Linden vor dem Heim gelesen (Studienrat Dr. Werner) (Aufgenommen von Studienrat Langer)

Daß unsere Schulen in geistiger Beziehung nicht zurückgehen dürfen, ist für jeden Einsichtigen klar. Deshalb legen die Landheime den größten Wert darauf, daß ein straffer Unterricht fortgeführt wird. Aber alle andere verfügbare Zeit wird der gesundheitlichen Ertüchtigung unserer Jugend gewidmet.

Gleich der Morgen beginnt im Jöhstädter Landheim mit gymnastischen Übungen; nicht in staubiger Turnhalle, sondern draußen auf der herrlichen Waldwiese. Die größte Aufmerksamkeit wird der Ausbildung der Atmungsorgane gewidmet. So werden die Lungen geradezu vollgepumpt voll ozonreicher Bergluft. Ein täglich sich steigernder Dauerlauf meist auf der Straße nach Jöhstadt zu schließt das Frühturnen ab. Alle Mahlzeiten und alle Unterrichtsstunden werden, soweit es das Wetter zuläßt, im Freien abgehalten. Eine einstündige Mittagsruhe sorgt dafür, daß keine Überanstrengung eintritt. Spiele auf der Wiese, Geländespiele im Walde und Wanderungen, oft hinüber ins Egertal, bringen erwünschte Abwechslung. Für den täglich wachsenden Hunger spendet die Küche eine kräftige, einfache Nahrung. Und so kommen die Jungen nach 3 Wochen in die Stadt zurück, gebräunt am ganzen Körper, mit frischen Gesichtern und leuchtenden Augen.

Der morgendliche Dauerlauf (Rechts im Hintergrund der Pöhlberg)
(Aufgenommen von Prof. Weder)

Wenn erst die wirklich hohen Ziele der Landheimbewohnung in allen Kreisen richtig erkannt sind, dann steht zu hoffen, daß bald alle Schulen, höhere und Volksschulen, ihr Heim haben. Dann wird auch das Wort für die Lehrer wahr werden, das kürzlich ein süddeutscher Oberstudienrat sprach, – ein Wort, von dem wir leider noch weit entfernt sind -: „Ich bin niemals so gern Lehrer gewesen, als in den Jahren, seitdem wir ein Landheim haben.”