Weihnachten im Erzgebirge.

Illustriertes Erzgebirgisches Sonntagsblatt 127. Jahrgang, Nr. 52, 24. Dezember 1933, S. 1 – 3

Jugenderinnerungen eines alten Erzgebirgers.

Friedlich ruhen die breiten Höfe des kleinen Erzgebirgsdorfes an der Berglehne, aber während sonst die umschließenden Zäune und Gemäuer nachbarlich sich begegnen und so einen Besitz mit dem andern verbinden, schließen heute weite Flächen meterhohen Schnees sie alle voneinander ab. Auch die schmalen tiefeingetretenen „Bahnen” von gestern sind über Nacht wieder verschwunden, und immer noch schweben lustig spielend die leichten Flocken vom grauen Himmel herab, um schließlich auf die Stellen zuzueilen, wo es noch zu überbrücken oder zu ebnen gibt. So wünschte man sich Weihnachten — und heute ist der 24. Dezember.

Früher als sonst erwachen die drei Kinder des Zimmermannes. Eifrig hauchen sie an das mit dichten Eisblumen überzogene Kammerfenster, um nachzuschauen, ob noch nicht der Tag anbricht, der letzte vor dem so lang ersehnten „heiligen Abend”. Könnten sie doch die Zeit, die ihnen je näher dem Feste desto langsamer zu vergehen scheint, gleich einmal um zehn Stunden kürzen! Das ist ihr kindlicher Wunsch, der freilich ganz im Gegensatze zu dem der Eltern steht, die gerade in diesen 10 Stunden noch viel, sehr viel zu schaffen haben. Bis gestern war „nutwennige Arbet” gewesen. Der Vater lieferte noch am Abend die Posamenten im nahen Städtchen ab und brachte dabei die letzten bescheidenen Geschenke — was jedes gerade am nötigsten gebrauchen konnte — mit heim. Die Mutter aber mußte nun im Hause alles blitzblank machen; sie würde sonst nicht fröhliche Weihnachten feiern können. Ganz zeitig ist sie aufgestanden, um vorerst die Stube herauszuscheuern, damit der Vater nach altem Brauch das „liebe Heiligohmdstruh” darin ausbreiten könne. Vorsichtig, wie auf geheiligtem Boden schreiten die eintretenden Kinder darüber hin, und „de Fiß huch, daß ersch Struh nett verfitzt!” der Mutter beständige Mahnung vom vorigen Jahre, sie klingt ihnen sofort wieder in den Ohren. Der Vater empfängt sie mit dem Rufe: „Zum heiling Ohmd mißt’r ober alle miet zugreifen!” und bald hat denn auch jedes Glied der Familie seine bestimmte Beschäftigung. Dem Oberhaupte fällt die schwerste Arbeit zu: die frisch angestrichene und neu lackierte Drehpyramide aufzustellen und — was nicht immer sofort gelingt — sie in rechten Gang zu bringen. Da gibt es an den Flügeln zu drehen, hier oder dort etwas unterzulegen, das Gewicht der Figuren auf den Scheiben genau abzuwägen und was alles noch. Genügt ein brennender Span als Triebkraft für das kleine Kunstwerk, dann ist sein Bemühen belohnt. Die zehnjährige Anna geht zum Kaufmann. Mit Stolz liest sie den langen Merkzettel, auf dem einige recht seltene Genüsse, wie Würfelzucker und Bohnenkaffee, verzeichnet stehen. Ob sie wohl wieder eine Tafel Schokolade als „Weihnachten” zubekommen wird? Die beiden Buben endlich freuen sich des Auftrages, das Paradies einzurichten, ein mit grünem Moose ausgelegtes und einem zierlichen, selbstgeschnitzten Zaune umgebenes Gärtchen. Die Stelle des unheilvollen Baumes im biblischen Paradies nimmt hier immer ein Jägersmann ein, und rings um ihn herum tummelt sich bald allerlei Getier der verschiedensten Zonen und ganz entgegengesetzter Gemütsart. Keins aber hat Furcht vor dem andern und auch nicht vor dem Jäger, der zwar beständig anlegt, aber niemals schießt. Daß der Kleinste beim Aufstellen der Schäfchen mit dem Ärmel an einer Zaunspitze hängen bleibt und dabei eine ganze Herde herunterreißt, ist Pech; ein Glück aber ist es, daß im Stroh nichts entzwei geht und daß der Vater am Heiligen Abend grundsätzlich nicht zankt. Auch die gerade ins Zimmer eingetretene Mutter meint nur, wie so oft bei derartigen Vorkommnissen: „Dös hob iech mr gedacht!” Ja, sie ahnte so vieles, und meist traf’s zu, das mußte selbst der Vater gestehen. Daß sie heute mehr denn je am Ofen zu tun hat, kommt auch mit daher, daß sie ahnt, der Christtagsbraten — ihre seit vier Jahren um der Federn willen treu gepflegte Gans — werde so schnell nicht weich werden. Sie setzt ihn darum heute schon mit an, obgleich sie mit dem „Neunerleiessen” gerade genug zu schaffen hat.

Alle Ofenröhren stehen voller Töpfe und Pfannen; es kocht und zischt, bruzelt und duftet, daß man bald einen Vorgeschmack haben kann von allem, was die heilige Zahl 9 an besonderen Genüssen umfaßt.

Der Vater ist unterdessen zur zweiten Arbeit übergegangen. Auf dem in die Stubenecke gerückten Tische stehend, befestigt er frische Tannenäste an die beiden zusammenstoßenden Wandflächen und die darüber ruhende Decke. Der Schweiß rinnt ihm von der Stirn; er merkt es nicht. Haben die Leute im Orte alljährlich seinen „Winkel” bewundert und als den schönsten gepriesen — in manchen Gegenden wird dieser weihnachtliche Zimmerschmuck „Krippe” oder „de Eck” genannt —, so sollen sie es auch diesmal tun. Unter Mithilfe der beiden Knaben, die fleißig herzulangen, ist endlich der kunstvolle Aufbau nach Wunsch vollbracht. Gold- und Silbersterne, Nüsse und bunte Pfefferkuchen leuchten aus dem dunklen Tannengrün hervor, und von oben herab schwebt der Verkündigungsengel, gerade über dem obersten Teil des Winkels, welcher die Hirten auf dem Felde bei Bethlehem zeigt. Der mittlere Teil stellt eine kleine Stadt dar; Rathaus, Kirche und Schule sind erleuchtbar, die Straßen beleben Reiter, Radler und mancherlei Gefährt, und wenn alles geht, muß rechts aus dem Tunnel kommend ein Eisenbahnzug dauernd in weitem Bogen vorüberlaufen. Die unterste Stufe erinnert an die Zeit des erzgebirgischen Bergbaues und gestattet einen Blick in die Schächte und Stollen, die Arbeitsstätten des Bergmannes. Der Vater atmet erleichtert auf; auch der Antrieb, ein Räderwerk mit zwei schweren Gewichten, ist in bester Ordnung. „Nu sei mr oder geleich fartig” ruft er aus, indem er noch den selbstgeschnitzten Leuchter am Drahte mitten in der Stube hochzieht, und „’s ward a Zeit!” fügt die Mutter hinzu, da eben vom Kirchturme her der Schall der Glocken ins Zimmer dringt, die das seligste aller Jahresfeste einläuten. Also 5 Uhr schon; um 6 soll gegessen und um 7 beschert werden. Während des Läutens geht der Zimmermann hinaus in den tiefverschneiten Garten, um jedem Obstbaume das schon bereitgelegte Strohseil als Weihnachtsgabe um den Stamm zu binden und damit einem sinnigen Brauche zu folgen, der so recht zeigt, wie eng sich der Gebirgler mit der Natur und allem, was sein ist, verbunden fühlt.

Unterdessen probieren die drei Kinder bunte Lichter in die Dillen der Holzbergmänner und Engel ein, welche die kleinen Fenster des niedrigen Stübchens heute wieder einmal strahlend hell erleuchten sollen. Nach der Größe geordnet, stehen alle diese Lieblinge der Kleinen, ihrer Erleuchtung harrend, da; nur der am weitesten rechts stehende trägt kein Licht — es ist der „Weihrauchkarzelmaa“, der mit weitgeöffnetem Munde seine Pfeife raucht und dafür sorgt, daß es „nach Weihnachten riecht“.

„’s ka nu lusgiehe!” ruft der mit schneeigen Stiefeln ins Zimmer zurückkehrende Vater, und eiligst zündet jedes Kind die ihm zugeteilten Lichter an. Die stattliche Drehpyramide setzt sich langsam in Bewegung, um dann mit sich steigender Geschwindigkeit die Weisen aus dem Morgenlande samt Gefolge ihrem Reiseziel zuzuführen; darüber freilich auf der zweiten Scheibe sieht man Joseph und Maria mit dem Jesuskinde schon in eiliger Flucht nach Ägypten. Der Engel im Winkel schwebt auf und nieder, um immer aufs neue die frohe Weihnachtsbotschaft zu bringen, während darunter der Eisenbahnzug am Städtchen vorübereilt und noch tiefer die emsigen Arbeiter im Bergwerke ihre lange Schicht beginnen. —

Da erscheint auch schon die erste der neun Speisen auf dem großen runden, heute sogar weißgedeckten Tische: die „Zäppelmillich”, d. i. Milch mit Semmelstückchen und Rosinen. Dann folgen Linsen mit Bratwurst, Sauerkraut und Klöße, Heringe mit Kartoffelsalat und, was auch mit gezählt wird, Salz und Brot. Das beides muß übrigens nach der Mahlzeit, eingewickelt ins weiße „Eßtuch”, auf dem Tische über Nacht liegen bleiben, damit es während des ganzen Jahres an diesen unentbehrlichsten Dingen nicht fehle. „Nu kennt iech odr nett meh!” läßt sich der Jüngste vernehmen, als er sein kleines Tischgebet gesprochen hat; die andern denken im stillen dasselbe.

Die Weihnachtsgaben haben die Eltern schnell ausgebreitet, während ihre Kinder für kurze Zeit auf die Dorfstraße eilen, um zu zählen, wieviel Lichter da und dort an den Fenstern brennen und vor allem zu sehen, ob Bäckers Hans wirklich den bestellten Bergmann mit vier Dillen beschert erhalten hat. Doch wer kommt da beim Nachbar heraus? Sie flüchten, und gleich nach ihnen tritt der „Rupperich“ mit einem jüngeren Begleiter ins Stübchen. Vor diesem letzteren haben sie wahrhaftig Angst. Schwingt er doch sicherlich nicht nur zum Spaße seine lange Rute, und es scheint geraten, sich in respektvoller Entfernung von ihm zu halten. Zu dem jedoch im langen weißen Barte und mit einem Pelze, dessen Inneres nach außen gekehrt ist, gewinnen sie bald Zutrauen. Mit sicherer Stimme sagen alle drei ihr Verschen auf, nur der kleine Max muß viermal dabei schlucken — am Ende jeder Zeile seines kurzen Reimes:

Rupperich, du frommer Gast,
wenn de wos in Säckel hast,
kimmst de rei un setzt dich nieder;
hast de nischt, do gihst de wieder.

Danach singen alle gemeinsam „Stille Nacht, heilige Nacht.”

Nun erst werden die Kinder zu ihren Geschenken geführt. Außer den für gebirgischen Winter so nötigen Dingen, wie Strümpfen, Fausthandschuhen und Schaltüchern erhält Anna einen Puppenwagen. Fritz einen Farbenkasten mit Ausmalbogen und Max eine Schachtel Zinnsoldaten. Darüber freuen sie sich besonders herzlich. Was werden aber die lieben Eltern zu dem sagen, was sie ihnen von ihren Ersparnissen gekauft haben? Anna steckt ganz heimlich zwei Päckchen dem Weihnachtsmann zu, und jetzt kommen Vater und Mutter an die Reihe. Merkwürdig, auch sie werden gefragt, ob sie gefolgt haben, und da sie das mit Fug und Recht bejahen können, überreicht der Weißbärtige dem Vater ein Paar Filzschuhe und der Mutter — ja was hätten sich die Kinder wohl anderes für diese aussinnen sollen — auch ein Paar Filzschuhe. Daß beide lächeln, als sie die dreifache Umhüllung gelöst haben, kann noch verschieden gedeutet werden, wie aber beide versichern, warme Füße seien die Hauptsache im Leben, da wissen die jungen Geber, daß sie das einzig Richtige getroffen haben. Mit der ernsten Mahnung an die Kleinen, sich in Schule und Haus der empfangenen Geschenke würdig zu erweisen, scheiden die Weihnachtsboten. Der Vater sucht sein Lieblingsplätzchen, die breite Ofenbank, auf und überschaut mit zufriedenem Sinn das traute, wieder einmal weihnachtlich geschmückte Stübchen, das helle und reine Freude erfüllt. Neben ihm auf dem Sofa aber sitzt, endlich einmal rastend, die Mutter. Niemand fragt sie, warum ihr eine Träne über die Wange rollt; sie wissen, daß sie trotzdem glücklich ist.

Von Zeit zu Zeit erscheinen hellbeleuchtete Gesichter an den Fensterscheiben; man will sehen, ob bei Zimmermann wieder alles so herrlich vorgerichtet ist. Plötzlich erkennen die Kinder den Vetter „Flaschner”, und jubelnd holen sie ihn herein, damit er, wie alljährlich, das Bleigießen übernähme. Zischend fällt die geschmolzene Masse in einen mit Wasser gefüllten Eimer, und sinnend und ratend betrachtet man von allen Seiten die entstandenen wunderlichen Gebilde. Die Mutter mit ihrer Ahnungsgabe soll immerfort wissen, was dies oder jenes wohl bedeuten könne, und sie sagt dabei jedem etwas Gutes für die Zukunft.

So ist’s 11 Uhr geworden. Die fürsorgliche Mutter mahnt zum Schlafengehen und löscht selbst das große „Heiligohmdlicht” aus, das stets oben auf dem Glasschrank brennt. Soll doch ein Stück davon übrig bleiben, daß man es nach altem Aberglauben bei schweren Gewittern im Sommer anzünden und dadurch das haus vor Blitzschlag bewahren könne.

Die übrigen Lichter brennen rasch hintereinander nieder — der schönste Abend des ganzen Jahres ist wieder einmal vorüber! Aber morgen früh will keines die heiligen Christmetten, das zweitgrößte Ereignis in all den festlichen Tagen, verschlafen. Nachdem die Kinder alles, was sie zum Kirchgang brauchen, auf einen bestimmten Platz gelegt haben, damit es frühmorgens kein langes Suchen gibt, gehen sie zu Bett, um zunächst wachend, dann aber träumend die letzten allzu kurzen Stunden des Heiligen Abends nochmals zu durchleben. Lange können sie nicht geschlafen haben, als die Mutter sie weckt. Wohl sind sie noch müde und die Luft riecht eisig kalt; aber das Wort „Metten“ wirkt Wunder, und der Kleinste, der zum ersten Male mitgeht, ist zuerst drunten in der Stube. Vor einem Jahre hat ihn die Mutter zur Kirche getragen, da er aber weinte, konnte sie ihn nur zur großen Glastür, die in das Schiff des Gotteshauses führt, hineinblicken lassen; diesmal will er ganz gewiß nicht weinen. Mit festem Schritt, ein Lichtlein krampfhaft in der kleinen Hand haltend, stapft er hinter seinen Geschwistern her, die ihm durch den verschneiten Hauseingang Bahn machen. Und jetzt — welch ungeahnte Pracht in dem sonst so einfachen Dorfkirchlein! Außer den drei großen langherabhängenden zinnernen Kronen und vier silbernen Altarleuchtern gibt es zwar im zweiten Raume keine Beleuchtungsmöglichkeit; aber jedwedes, ob groß oder klein, hat sein Licht mitgebracht. Die Kinder kleben es gleich auf die Kirchbank, die Erwachsenen aber stellen es in ihrem schönbemalten neusilbernen Leuchter auf das hierzu besorgte „Lächerkastel”, das eine horizontale Fläche auf der schrägen Bank bildet.

Sobald die Glocken auf dem Turme schwelgen, treten die Kinder der ersten Schulklasse, geführt vom sangeskundigen Kantor, in das Schiff der Kirche ein und umziehen unter dem Gesange einer alten Weihnachtsweise, in die allmählich auch die ganze Gemeinde einstimmt, den Altarplatz. Da im Landesgesangbuch manches allen liebgewordene Weihnachtslied fehlt, wird während des Mettengottesdienstes aus dem alten „Zwickauer” gesungen, und vollchörig dringt jeder der frohen Sänge in die ruhige Nacht.

Da sich beim Heimgange aus der Kirche kein Lüftchen regt, haben viele das Glück, ihr Licht brennend mit nach Hause zu bringen. Das bedeutet immer etwas Gutes, wenn man auch nicht bestimmt weiß in welcher Hinsicht. Und dann erstrahlt bald wieder jedes Hüttchen in demselben Lichterglanz wie am Vorabend.

Wieder drehen sich die Pyramiden, abermals steigt im „Winkel” der Engel auf und ab, und aufs neue beginnen die winzigen Bergleute ihr regelmäßiges Gehämmer. Auf dem Tische aber dampft der Kaffee, und in der Mitte liegt der erste Christstollen! Schade, daß es draußen zu tagen beginnt. Die Christtagssonne steigt rotglühend über dem „Knochen”, der das Tal ostwärts begrenzenden Anhöhe, herauf, um das echte Weihnachtsglück und den wahren Weihnachtsfrieden auf diesem stillen Stückchen Erde mit ihrem himmlischen Glanz zu bestrahlen, und die Festglocken rufen’s dazu jubelnd vom Turme: „Ehre sei Gott in der Höhe!”

Richard Morgenstern, Dresden.