Im Flugzeug durch das verschneite Erzgebirge

Illustriertes Erzgebirgisches Sonntagsblatt 126. Jahrgang, Nr. 10, 5. März 1933, S. 1-2

Von Wolfgang Späte.

An einem der letzten Sonntage war es. Da spannte sich so lockend blauer Himmel über den Chemnitzer Flughafen, da gleißte das verschneite Landefeld so hell im Sonnenschein, daß es uns nicht mehr im warmen Pilotenzimmer hielt. Unser treues „Klemm”-Motorflugzeug stand schon bereit, quarrend schnurrte der Motor vor sich hin, um warm zu laufen. So quetschten wir uns denn — der Fluglehrer Heinz Schlosser und ich — in dicke Pelze gemummt in die Sitze, und wenige Minuten darauf zogen wir mit unserem Vogel in luftiger Höhe davon. Fort vom Qualm und Dunst der Großstadt, hin zu jenen Höhenzügen im Süden, die sich durch den Schleier der Ferne leise abzeichneten!

Wir waren noch im Gebiete der Industriestadt und deren Bild bleibt Sommers wie Winters gleich: arbeitsam nüchtern und — schmutzig. Erwartungsvoll glitt deshalb der Blick immer noch vorwärts, eilte an Straßen entlang, verweilte kurz auf dem Häuserbild einer Vorstadtsiedlung und wanderte doch immer rastlos weiter, suchend und forschend nach dem Erlebnis, das man sich versprochen, nach dem Bild der unberührten verschlossenen Winterwelt …

Jetzt lag bald die letzte hohe Esse, der letzte dickbäuchige Gasometer im schwarzen Rauch der Stadt hinter uns und aufatmend rückte man sich ein wenig im engen Sitz zurecht. Harthau, Einsiedel, auch Zschopau waren indes 300 Meter unter uns vorbeigeschoben. Der nächste Blick nach unten bannte bereits das Auge zu langem Betrachten auf den Grund. Hier zeigte nichts mehr die Spuren menschlicher Tätigkeit an. Kein Gewimmel von Gärtchen und Steigen erinnerte an kleinliche Menschenverhältnisse. Selbst das vom Sommer her vertraute Kaleidoskop kleiner bunter Felderflecke, heller und dunkler Laub- und Nadelwälder fehlte. Die mächtige Hand des Winters hatte alles gleich gemacht. — Wie der Tod ist der Winter, dachte ich unwillkürlich, nur mit dem Unterschied, daß das, was jener unter 3 Fuß Erde begräbt, keine rasche Auferstehung schon im nächsten Frühlingssturm erlebt, wie die vom Schnee begrabene Natur.

Unpersönlich wurde das Land. Die Raine und Böschungen ließen sich nur undeutlich unter der glitzernden Maske von Schnee ahnen. Selbst die Straßen bestanden nur noch aus scheinbar zwecklos sich dahinziehenden Fäden mit kurzen Strichen — Bäumen. Und auch der Wald war zauberhaft starr und tot, schwarz die entblätterten Laubbäume, düster das Grün des Nadelwaldes, nur weiß schimmernd vom Hauch des Rauhreifs und von der Schneelast auf den Zweigen. Wie wir so im eintönigen Motorengeknatter darüberweg huschten, kamen wir uns beinahe wie einsame Entdecker über fremden Erdteilen vor.

Olbernhau hatten wir angeflogen und drangen nun längs dem Gebirgskamm in Richtung Annaberg vor. Noch waren wir im wirtlichen Vorgebirge, hatten gar bald ein Städtchen unter uns. Früher bereits war mir erzählt worden von der gerade für den Flieger leicht erkennbaren symmetrischen Genauigkeit, mit der das kleine Schmuckkästchen Marienberg angelegt ist. Rechtwinklig kreuzen sich dort alle Straßen und lassen in der Mitte einen sauber quadratischen Marktplatz frei. Und als wir näher hinzukamen, erkannten wir deutlich, wie auch die Fußsteige, die sich die Einwohner quer über den Platz durch den Schnee gestampft hatten, schnurgerade durch einen Mittelpunkt kreuzten. Hut ab vor so viel Ordnungssinn!

Links voraus lag jetzt ein breiter Bergkoloß, dessen waldbestandene Kuppe scharf in den blauen Himmel hineinstach: der Pöhlberg. An seinem Fuße breitete sich behaglich eine weitläufige, überraschend große Stadt. Es war Annaberg. An den enggeschachtelten Stadtkern schließt sich ein massiger Ring von Häusern und Fabrikanlagen. Erst von oben, aus mehreren hundert Meter Höhe, konnte man so recht die Bedeutung dieser hochgelegenen Kreisstadt erkennen!

Nunmehr wollten wir aber unsere Entdeckerfahrt mit der Bezwingung der höchsten Gebirgskuppe krönen. Der Kurs hieß: Fichtelberg.

Unser tapferer Motor! Er sang unermüdlich sein monotones Lied und kraxelte wie ein treues Maultier die bedeutende Steigung hinan. Je näher wir an den Kamm heranpürschten, um so erdrückender türmten sich die waldigen Hänge vor und um uns. Doch endlich war es vollbracht. Mit einem Schlag wich der Wald in die Tiefe zurück, und da eilte auch schon der ersehnte Gipfel auf uns zu. In geringer Höhe umkreisten wir ihn, um dann plötzlich über das Tal vorzustoßen.

Was da unten so klein und friedlich dalag war Oberwiesenthal, als hätte es ein Riese aus seinem Spielzeugkasten in den Schnee aufgebaut, um es gleich wieder mitzunehmen. So mochte ein Schneeschuhläufer es sich träumen: Von einer hohen Schanze in die weite Luft hinauszuschießen, schwerefrei, um das ganze sonnenbeschienene Land zu seinen Füßen zu sehen, wie wir im Flugzeug es tatsächlich erleben durften.

Der wirbelnde Kreis der Luftschraube aber zog auch uns fort und fort. Es hieß Abschied zu nehmen, zurückzukehren zum heimatlichen Hafen. Trunkenen Auges und doch ein wenig hadernd mit der unerbittlichen Notwendigkeit, die unserem Flug eine Grenze zog, lenken wir den Kurs abwärts, Chemnitz entgegen.

Bald würde uns die Erde wieder haben — sei gegrüßt, o du mein Erzgebirg‘!