Von Wiesenbad nach Wiesa.

Illustriertes Erzgebirgisches Sonntagsblatt 126. Jahrgang, Nr. 2, 8. Januar 1933, S. 5-6

Erlebnis aus meiner Wiesenbader Lehrerzeit von Fritz Deubner.

Von Ostern 89 bis Ostern 90 besuchte der bekannte Dichter und pädagogische Schriftsteller Fritz Deubner, der am 2. Januar seinen 60. Geburtstag feierte, das Annaberger Seminar. Seine Hilfslehrerjahre verbrachte Deubner ganz in der Nähe von Annaberg, in Wiesenbad. In diese Zeit fällt ein Erlebnis, über das er uns in seiner Erzählung: „Von Wiesenbad nach Wiesa” sehr anschaulich berichtet.

Weit ist Deubner umhergekommen. Jetzt amtiert er als Rektor in Brotterode am Großen Inselsberge. Aus seiner unterrichtlichen Tätigkeit erwuchs eine reiche pädagogische Schriftstellerei.

Hofrat Prof. Anton Ohorn schrieb anläßlich des 50. Geburtstages von Fritz Deubner u. a.:

„Deubner vereinigt in seinem reichen literarischen Schaffen in trefflicher Weise den Pädagogen und den Dichter und steht in beiden Beziehungen auf einem gesunden Boden. Seine reiche pädagogische Tätigkeit begegnet uns in mehr als 100 feinsinnigen und gehaltvollen Aufsätzen. Aber überwiegend noch ist sein schöngeistiges Schaffen auf lyrischem und dramatischem Gebiet. Seine Gedichte zeigen durchaus warmes, wahres und tiefes Empfinden, echt poetischen Stimmungsgehalt und sichere wirksame Beherrschung der Form. Dabei sind sie einfach und volkstümlich und schmeicheln sich vielfach auch für die Vertonung ein, sodaß man in jeder Hinsicht Freude an ihnen haben kann und gern dem Dichter nachempfindet.

Als Dramatiker schrieb Deubner mehrere Schauspiele. Eine besondere Spezialität sind seine Kinderspiele, die sich weiter Verbreitung und wohlverdienter Anerkennung erfreuen. Hier gerade reichen sich in bester Weise Lehrer und Erzieher die Hand, und Deubner bekundet eine ergreifende und fesselnde Einsicht in die Seele der Jugend. Hier ist die rechte Stimmung, anmutige Wärme, einfache und doch gefällige und ansprechende Handlung und die zum Verständnis und Empfinden der Jugend redende poetische Sprache. Es sind kleine Dichtungen, die ganz geeignet sind, die jungen Herzen zu erfreuen, und sie haben diesen Erfolg immer wieder, wo sie, wie es schon oft geschehen, an Kinderfesten zur Aufführung gelangen.”

Fritz Deubner, Seminarist
Fritz Deubner als Annaberger Seminarist.

Nun soll Deubner selbst einmal zu uns sprechen durch seine Erzählung: „Von Wiesenbad nach Wiesa”, und sicher werden sich noch viele seiner alten Freunde an Deubner Fritz erinnern, der sich ihnen in unseren Bildern zeigt. Ihm selbst wünschen wir weitere Erfolge dichterischen Schaffens und alles Gute im neuen Lebensjahrzehnt.

„Zum Abendessen bin ich wieder da, ’s ist ja nur eine halbe Stunde bis hin. Ich will nur eine Liste hinüber nach Wiesa schaffen zum Kantor. Also, auf Wiedersehn!” — „Auf Wiedersehn!” Und dies Wort sah mir noch einmal zum Fenster hinaus nach, bis es mich nicht mehr sehen konnte. Der Schnee freute sich, daß er wieder Stapfen zu prägen hatte, die Sonne schien Abschied in seine Werkstatt hinein und leuchtete ihm ein wenig bei seiner Arbeit. Sie hatte rote Abendfeier abzuhalten am Westhimmel mit einigen Wölkchen, die zur Versammlung erschienen waren. Ab und zu sah ich durch den Wald die roten Lichter brennen. Und still war’s wie in einer Kirche. Schnell war ich durchs Wäldchen. Die Fichten standen grün; sie hatten sich ihre weißen Pelzchen und Krägelchen abgeschüttelt. Sie warteten wohl auf ein neues.

Ich bin auf freiem Feld. Noch zwanzig Minuten, dann bin ich meine Liste los. Auf einmal ein fürchterlicher Sturm. Die zarte Abendversammlung löst sich auf, und ungeheure Massen stürmen in grauschwarzem Gewächs heran wie Aufruhr und Empörung. Und hinter ihnen die Nacht. Millionen von brennenden Eispfeilen schleudert sie mir ins Gesicht, daß ich mich wenden muß. Aber auch da. Ich muß die Augen schließen. Wo steht der Feind? Ringsum die ganze Nacht mit allen ihren Ungetümen hat mich umzingelt, und nirgends kann ich sie packen, und nirgends kann ich durch. Mühsam dringe ich vor, aber wohin? Wo bin ich? Ich bin doch sonst hier wie zu Hause! Wie oft hat dieser Weg meine Füße getragen, bei Sturm und Regen, bei Licht und Nebel. Nicht die Hand vor den Augen seh ich. Und die Wegspuren? Vor mir verweht. Hinter mir? Meine eignen? Im Verwehn. Schnell also, schnell wieder zurück zum Wald! Der soll mir Mauer sein. Was? Wie? Zwei Schritte und keine Stapfen mehr? Die doch der Winter für mich geprägt? Wohl hatte ich jetzt die Eispfeile im Rücken. Aber was ist Rückzug ohne Weg? Rund um mich alles weiße Wüste, die liegenden Pfeile vom Sturm wieder hochgepeitscht zu massigem Verderben. Nur die Stapfen, in denen ich stand, lebten noch. O Schnee, wie prägst du schlecht! O Versammlung der Sonnenwölkchen, wie trogst du mich! „Bleib stehen!” heulte der Sturm, „erfrier!”, und schleuderte mir die Augen zu. „Was willst du? Gehn heißt Tod, Stehn heißt Tod. Was stehst du? Was gehst du? Weißt du nicht, daß hier der Ochsensprung in der Nähe ist, wo die Bahn tief unten hinfährt, wo vor vielen Jahren das Gespann Ochsen samt dem Schlitten in die Tiefe stürzte?” Das blies mir der kalte Mund des Schneesturms in die glühenden heißen Ohren. Soll ich auch die Ohren noch schließen, wo ich schon die Augen nicht öffnen kann? Soll ich auch nichts hören? Soll ich nicht hören, wie ich sterben muß? Und immer noch stürmte der Sturm und geißelte mich, daß ich nicht stehen, gehen mußte. Vorwärts mit dir, vorwärts! Vom Tod in den Tod! Was hast du vor mit mir, Natur, die ich so liebe, die mir immer Leben und Hoffnung gab. Willst du mir Sterben geben, wie ein falscher Hirt mich in die Tiefe treiben, die du mich so oft getränkt und lieb geweidet? Ich ging, getrieben wie ein steuerloses Segelschiff, durch die Schneeflut, wohin die dunkeln Mächte wollten. Aber die Nacht? Die wirkliche Nacht! Soll ich bis zum Morgen treiben? Erschöpft steh ich still. Die Nacht, ja, die Nacht! Die letzte ohne Morgenrot! Wenn die Sonnenwölkchen, die neuen, ihre Versammlung halten auf der andern Seite des Saales … Ich will mich eingraben in den Schnee, so tief ich nur kann, weg von der Oberfläche. In meines Leibes Stapfen will ich begraben ruhn. Was war der Schnee mir sonst für eine Wonne! Und jetzt soll er mein Sarg werden! Und auch der Sturm, wie liebt ich ihn! Oft suchte ich ihn und freute mich seiner Kräfte und ließ mein Taschentuch oder meinen Mantel drin flattern wie eine Fahne. Und jetzt? Schnee, Sturm, Nacht, Natur im Bund zu meinem Sturz?

Fritz Deubne, Rektor
Fritz Deubner als Rektor in Brotterode.

Ich hatte mir schon das letzte Bett gegraben. Da sah ich einen Baum in meiner Nähe, der frei vom Schnee seine eignen Aeste peitschte. „Komm herauf zu mir, in meinem Schütteln bleibst du wach. Kannst nicht einschlafen, nicht erfrieren. Was willst du mit einem Bett? Ruhen? Wer ruht, stirbt. Steh und laß dich schütteln! Werd‘ Ast von meinen Aesten! Die behalten auch ihr Leben im Sturm und grünen einen schönen Frühling. Der Schnee hat dir schon den Tritt herauf zu mir gebaut, drei Wehenstufen übereinander, und des Sturmes Peitsche hat sie fest gestampft. Tritt zu!” — „Recht, Baum, sei du meine Rettung! Auf der Erde unten ist keine mehr. Aber werde ich mich auch oben halten können mit den starren Händen?” Ich ließ also das Bett und stieg die Stufen hinauf. Aber der Sturm wollte es nicht; er war zu stark und ließ mich nicht hinauf; er zerrte mich zurück, daß ich hinunterglitt. So werd‘ ich wieder zurückgestoßen in den Tod? Weiß lag er überall und griff nach mir. Nein, ich muß doch hinauf, ich muß. Oder ducke ich mich hier hinter die Sträucher? Nein, weg, weg vom Schnee, der unter seiner Decke die zarte Saat errettet und über sich Menschen sterben läßt. Ich steig‘, ich heb‘ den Fuß, er schwebt und kann nicht treten, so glatt und schräg ist die Stufe. Jetzt geht’s. Jetzt Baum. Erster Ast. Zweiter Ast. Dritter. Herrgott, Herrhimmel, was ist denn das? Was kommt denn da? Denn da? Das ist kein Stern, das sind die Abendwölkchen nicht. Das ist doch — das ist doch — Herunter mit mir, Baum! Du hast mich doch gerettet! Langsam, langsam, durch Schnee und Sturm, durch Nacht und Finsternis bewegt sich ein Licht. Da drüben! Da muß der Weg sein. Sucht man mich? Sucht mich der Hausmann, der so schön gesagt: „Auf Wiedersehn!” und mir’s vom Fenster zugewinkt? O wie schön, gesucht zu werden! Wie schön, aufgeweckt zu werden! Ja, die Auferstehung von den Toten ist das Schönste, was es gibt. Oder täusch‘ ich mich? Die Hand hält noch den Stamm, der Fuß schwebt noch zum letzten Tritt. Ich halt‘ mich fest. „Hier! Hilfe, hier! Hier bin ich!” Du gehst ja weiter, Licht, Licht! Ob’s der Sturm wohl hinträgt, mein Feind? Eile hat er ja. Ja, das Licht kommt näher. Kommt es näher? Schnee trügt. Nein, es geht vorbei. Was seh ich da? Noch ein Licht! Noch eins! Noch eins! Zwei, drei, vier. Sucht da ein Licht das andere? Oder suchen alle mich? Steigen da Sterne herunter? Sind’s Irrlichter? Sind’s Schneegespenster, die mich holen wollen? Immer noch schwebt mein Fuß. Ich ruf‘, ich schrei. Die Stimme bricht, und der Sturm heult dazu vor Wut. Sie hören mich. Die Lichter halten, alle halten, alle wollen kommen. Doch klüger ist’s, entgegengehn, als warten. So spring ich in den Schnee und geh und geh, Bein tief, Bein hoch. Die Lichter gehen weiter? So wartet doch! „Hilfe, Hilfe!“ Sie warten wieder. Ich geh. Sie gehen wieder. „Hilfe, Hilfe!” Sind die Lichter doch Blendwerk? Licht blendet gern. Ich eile, mit Schnees Weile. Sie stehn. Sie gehn? Sie wollen nicht? Bald eil ich, bald weil ich und schrei. Bald stehn sie, bald gehn sie. Wer will auch im Schneesturm stehen bleiben, im Eisgepfeil? Heim, heim will alles. Nehmt mich mit! Ich will ja auch bloß heim. Nichts weiter heut als heim. Ist das so weit noch bis zu den Lichtern? Täuscht der Schnee auch jetzt noch mich? Still! Ich hör‘ sie reden. Ja, ich höre sie; Herrgott, ich höre sie. Stimmen sind es, Menschenstimmen? Rettung, Rettung! Menschen, Menschen! Arbeiter aus der Flachsspinnerei Wiesenbad, die heim jetzt wollten, sind es, die des Tages Faden abgesponnen. „Guten Abend, Herr Lehrer. Ach, Sie sind’s! Ja, wo kommen Sie denn her? Sie kommen doch vom Ochsensprung.” — „Von dem Baum dort!” — „Dem Baum? Der steht am Ochsensprung. Da können Sie aber Gott danken.” Noch nie hab‘ ich Arbeiter so lieb gehabt wie die. Ich hab‘ ja immer alles Arme lieb gehabt, aber nie so lieb wie jetzt. „Wir wollen aber nach Wiesa.” — „Schad‘ nichts, ich geh mit euch. Seine Retter soll man nicht verlassen, wenn man ganz gerettet sein will. Und morgen früh geh ich mit euch zurück.” Da nahmen mich die Lichter in ihre Mitte, und ich ging durch den Sternenhimmel wie in eine schönre Heimat hinüber, von den Toten auferstanden. Was Auferstehung heißt, fragt mich! Ich hab‘ sie erlebt. Nur meine Liste hat der Schnee behalten, nicht mein Leben.