Die Annaberger Straßennamen.

Erzgebirgisches Sonntagsblatt 119. Jahrgang, Nr. 27, 4. Juli 1926, S. 6

Heimatkundliche Plauderei von Emil Finck.

(Fortsetzung.)

Es darf daher wohl vermutet werden, daß nicht immer nur der Zahlbegriff, sondern mehrfach auch die Bezeichnung einer bergmännischen Tätigkeit im Sinne von „Durchsieben oder Seifen” durch das Wort festgehalten werden soll. Nun aber ist der Weg, um den es sich hier handelt, wahrscheinlich älter als die Stadt. Dafür scheint wenigstens eine Beobachtung aus dem Jahre 1883 zu sprechen. Als nämlich damals zum Bau des Crüwellschen Hauses (Buchholzer Straße 14) das vormals Rülkesche Haus abgetragen und der Baugrund gegraben ward, deckte man in vorher unberührter Tiefe die gepflasterte Fortsetzung der Siebenhäusergasse auf. Eine solche hat nach Erbauung der Stadt nicht mehr bestanden. Sonach besteht die Möglichkeit, daß auch eine bauliche Anlage bergmännischer Art schon vor der Entstehung Annabergs an der Gasse gestanden hat und — als ferngelegener Ortsteil von Kleinrückerswalde — die Bezeichnung „Siebenhäusergasse” getragen haben kann.

An den bereits erwähnten Stadtbrand im Jahre 1837 aber erinnert die Neuegasse. In ihrer Grundanlage war sie zwar schon von alters her vorhanden, doch erfuhr sie beim Wiederaufbau des gänzlich niedergebrannten Stadtteils eine gleichmäßige Abgrenzung und den zum Fahrverkehr nötigen Ausbau. Noch auffälligere Veränderungen zeitigte das schreckliche Ereignis an der östlichen Stadtmauer. Stückweise verschwand diese damals gänzlich unter den Händen der Bauenden, deren viele die erforderlichen Steine da entnahmen, wo sie bequem und ohne Entgelt zu erlangen waren. Etliche rückten ihre Neubauten so an die Mauer hinan, daß durch sie eine Hauswand gespart wurde. Den lästigen Abraum lagerte man kurzerhand in den Wallgraben, der mit der Zeit völlig ausgefüllt ward. Auf ihm ist alsdann die Lindenstraße angelegt worden, die anfangs „Äußere Seminarstraße” hieß. Ihre jetzige Bezeichnung erhielt sie nach sechs sehr alten, großen Linden, die an ihrem untern Ende teilweise mitten auf dem Wege standen. Die letzten drei sind im Mai 1894 gefällt worden. So trägt jetzt die Straße ihren Namen nur noch in Erinnerung an ihre ehemalige Zierde.

Die Illustration ist ein Ausschnitt der Rudolf Köseltz’schen Zeichnung aus: Emil Finck „Es war einmal…” (Pöhlberg-Verlag) zu der Erzählung: Ein spöttisches Wahrzeichen.

Eine eigentümliche Bewandtnis hat es mit der Sperrgasse, die von der Frohnauer Gasse abzweigt. Der Name ist geeignet, die Vorstellung von Gewaltmaßnahmen zur Abwehr von Unzuträglichen zu erwecken. Aber das ist bei der Gasse selbst keineswegs zutreffend. Ihre Bezeichnung hat sie lediglich nach einer Fratze erhalten, die bis gegen die Mitte des 19. Jahrhunderts dort an einem Hause der Frohnauer Gasse (Nr. 6) angebracht war und von Fremden gern als ein scherzhaftes Wahrzeichen Annabergs angesehen wurde. Das hölzerne Bildwerk — die Annaberger Sperrkusche (d. i. Sperrscheuche) oder Sperrgusche (d. i. Sperrmaul) genannt — ist noch vorhanden und wird im „Erzgebirgsmuseum” mit aufbewahrt. Es wird erzählt, daß sie früher noch von einem sinnvollen Hausspruche umrahmt gewesen sei, der auf nachbarlichen Unfrieden schließen ließ und das Mittel pries, das solchen vermeidbar macht: — Selbsterkenntnis!

Die erstrebte Vollständigkeit bedingt es, auch noch der beiden Kartengassen zu gedenken, obwohl es nicht gelingen will, eine durchaus zuverlässige Deutung des Namens zu finden. Die Schreibung macht es sehr unwahrscheinlich, daß „Gartengassen” gemeint sein könnten, wenn auch sonst viel für eine solche Vermutung spricht. Ebenso ist es mit der „Kardengasse”, obschon eine solche Bezeichnung angesichts der lebhaft betriebenen Tuchmacherei und der viel verwendeten Kardendisteln gar wohl einen Sinn hätte. Selbst die Möglichkeit einer „Corduangasse” ist nicht ohne weiteres von der Hand zu weisen, da die Corduanmacherei in Annaberg heimisch gewesen ist und solche Gerberei doch nur am Stadtbache, also gerade an jenen Gassen, betrieben werden konnte. Es blühte in Annaberg aber auch die Kartenmacherei, d. h. die Herstellung von Spielkarten. Im Erzgebirgsmuseum befindet sich ein unzerstückter Karten-Druckbogen, auf dem ein Blatt das Annaberger Stadtwappen, ein anderes die Bezeichnung trägt: „Gemacht in S. Annaberg bei Johann Hainrich Wolfgang.“ Im Kirchenbuche von 1604 wird ein Kartenmacher Weinmeier erwähnt. Auf dem 1660/61 tagenden Landtage ward eine Spielkartensteuer in Höhe von 2 Groschen auf eine französische, hingegen 1 Groschen auf eine annabergische Karte angeregt. Annaberger Pikettkarten werden auch sonst erwähnt. Es scheint sonach viel dafür zu sprechen, daß die Kartenmacherei die Gassenbezeichnung veranlaßt haben könnte. Immerhin bleibt zu bedenken, daß nicht Kartenmachergasse daraus ward, und daß es bloßer Zufall gewesen wäre, wenn die Herstellung der Spielkarten immer nur an jenen Gassen erfolgte, was aber auch durchaus nicht erwiesen ist. Überdies wird die Kartengasse schon 1518 erwähnt: Albinus berichtet nämlich, daß sie im genannten Jahre gepflastert worden sei. Das macht erst recht stutzig. Und so muß auch an die Möglichkeit gedacht werden, daß bei dem Stadtbau eine Karte oder ein Grundriß für die Anlage der Straßen maßgebend gewesen sein kann. Wer wird’s ergründen?

Endlicht gibt’s in Annaberg noch eine Benennung, die ganz bedeutungslos ist, ja irreführen muß. Das ehemalige „Parzergäßchen”, das die große Kartengasse mit der Kleinen Kirchgasse zu unterst verbindet, erhielt 1897 die geheimnisvolle Bezeichnung An der Mauer. Das ist mutmaßlich im Hinblick auf eine einseitig anstehende häßliche Gartenstützmauer geschehen. Aber irgendwelche Wichtigkeit hat das kurze Stück Mauerwerk nie gehabt, und als ein Unikum kann es in der am Berghange aufgebauten Stadt erst recht nicht gelten. Wenn ein Weg in Annaberg berechtigt wäre, den Namen „An der Mauer” zu führen, dann könnte es nur der „Promenadenweg” sein, der fast in seiner ganzen Länge an einem stattlichen Reste der alten Stadtmauer hinführt. Wenn in irgend einer Stadt von „der Mauer” die Rede ist, so darf doch wohl kaum an etwas anderes gedacht werden, als an die „Wehrmauer” die frühere Geschlechter mit großem Aufwand erbauten und heldenhaft verteidigten, wenn es widrige Umstände erforderten. Da anzunehmen ist, daß auch künftigen Geschlechtern die Straßenbenennung als Grundlage zu heimatkundlichen Betrachtungen dienen werde, so liegt es an uns Lebenden, Steine des Anstoßes beiseite zu räumen. Und das könnte geschehen, wenn ersichtliche Unrichtigkeiten beseitigt und vermieden würden.

(Fortsetzung folgt.)

Geschichtliches über die Straßenbenennung.

Auch die Straßenbenennung an sich hat ihre Geschichte. Und eine solche ist heimatkundlich kaum weniger merkwürdig, als die Namen selbst es sind. Sie zeigt, wie Anschauungen und Bedürfnisse bei Behandlung öffentlicher Angelegenheiten gewechselt haben, welche Steigerung die Inanspruchnahme der Gemeindeverwaltung mit der Zeit auch in Hinsicht auf das Verkehrswesen erfahren hat. Sie läßt vor allem erkennen, wie der Sinn für sachliche Förmlichkeit im Volke stetig gewachsen ist.

Schon bei der Besprechung der 125 Namen ist hin und wieder auch die Zeit angedeutet worden, die solche geprägt oder amtlich festgelegt hat. Es geschah indes nur beiläufig und insoweit, als die Entstehung oder Wahl der Namen dadurch erklärlich gemacht werden kann. Seit wann und inwieweit aber die Gemeindeverwaltung an der Sache beteiligt gewesen ist, welche Bedürfnisse und Anlässe, Zwecke oder Absichten überhaupt dazu geführt haben, die Straßenbenennung amtlich in Beschlag zu nehmen, ist dabei noch nicht festgestellt worden. Ein hierauf gerichtetes Besinnen mag manchem eine Überraschung bereiten, weil das Alter bestehender Einrichtungen oftmals sehr fehlgeschätzt wird.